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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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Der Raum machte es unmöglich, jemand anderen oder sich selbst zu verletzen, mit einem Werkzeug, das nicht der eigene Körper war.
    Pfarrer Grenzfurtner lief um den Besprechungstisch herum, er sprach in ein Megaphon, das er auf mich richtete. Manchmal legte er es auf den Tisch und ging vorgebeugt, die Arme hoch hinter dem Rücken verschränkt, mit schweren Schritten, als ob er bis zur Hüfte durch ein Gewässer watete. Es gab gar kein Megaphon, er stand überhaupt nicht von dem Besprechungstisch auf, aber er besitzt dieses einmalige Talent, den Eindruck zu erzeugen, er bewege sich ständig, während er spricht. Er beschrieb seinen Besuch bei Greta so anschaulich, dass er mich glauben machte, ich sei selbst dort gewesen.
    Greta hatte ihre Haare in den Kragen des langärmeligen weißen Sweaters gestopft, sie krallte ihre Hände in die weite weiche Hose und zog sie über den Oberschenkeln zusammen. Sie trug flache Turnschuhe ohne Schnürsenkel und keine Socken.
    Pfarrer Grenzfurtner sagte, er freue sich, sie wiederzusehen. Sie nahm es gar nicht zur Kenntnis, sondern ging zu dem Waschbecken und wusch sich die Hände, als ob sie ihm zur Begrüßung die Hand gegeben hätte und eine Ansteckung fürchtete. Danach wandte sie ihm den Rücken zu, die Arme an den Körper angelegt, die Hände abgespreizt.
    Pfarrer Grenzfurtner fragte, was er nun machen solle.
    »Du musst auf die Zeichen achten.«
    Er verstand nicht.
    »Hast du etwas bemerkt, was seltsam oder unheimlich war? – Oder außergewöhnlich ironisch?«
    Natürlich wusste Pfarrer Grenzfurtner nicht, was er sagen sollte.
    »Auf solche Dinge musst du achten.«
    Greta schien zufrieden, als ob sie ein gutes Werk getan hätte.
    »Es kann dein Leben retten, wenn du die Zeichen erkennst«, belehrte sie ihn.
    Danach sprach sie nicht mehr mit ihm. Bevor er ging, warf Pfarrer Grenzfurtner noch einen Blick auf die Fotos und Texte an der Wand. Die Bilder ganz unten stachen heraus, sie zeigten einen dünnen, viel zu schnell gewachsenen Jungen in einem am Bauch gerafften Abendkleid mit einem Blumenmuster, der obere Teil des Ausschnitts und die Schultern waren von einem durchsichtigen Chiffonteil bedeckt. An der Stelle, an der das Kleid gerafft war, prangten eine riesige schwarze und eine riesige weiße Stoffrose. Der Junge trug ein breites Brillantcollier, ein Brillantarmband und einen Ring mit einem sehr großen Brillanten, keins der Teile sah nach Strass aus. Er hatte rot angemalte Lippen und war um die Augen herum geschminkt, auch seine Fingernägel waren rot lackiert.

    Nur wenige Tage später ging Greta wieder ins Büro.

    Du hattest den Flug zu ihr nach Philadelphia gebucht. Erst verschobst du ihn, dann hast du ihn storniert, Maren.
    Ein Galerist aus Hamburg besuchte dich, um deine Gobelins im Original zu besichtigen. Abbildungen von Gobelins zeigen nur, was die Gobelins abbilden, sie können keinen Eindruck der stofflichen Eigenschaften vermitteln. Es sei alles o.k., hatte Greta geschrieben, und dass sie so viel abzuarbeiten habe.
    Maren, du hättest trotzdem fliegen sollen.

    Von einer juristischen Auseinandersetzung war nicht mehr die Rede. Die offizielle, von ihrem Vorgesetzten autorisierte Version lautete, Greta sei überarbeitet gewesen und habe ein Medikament genommen, das sie nicht vertragen hatte. Alle hielten sich an diese Lesart. Ihr Vorgesetzter korrigierte ihre Personalakte und entfernte alles, was nicht mit der offiziellen Version vereinbar war.

    Ich muss dir von dem alten Mann erzählen.
    Der Junge im Abendkleid an der Wand bei Greta war kein Unisex-Model aus der Ukraine oder Weißrussland.
    Ich rede gar nicht oder zu spät. – Ich weiß, Maren.

    Greta erwähnte den alten Mann mir gegenüber nie auch nur mit einem Wort. Aber sie vertraute sich Pfarrer Grenzfurtner an, als sie ihren Dienst wiederaufnahm.
    Sie hatte ihn in der Lobby des Waldorf Astoria in New York kennengelernt. Er war Ingenieur wie ich. Wenn man aus Deutschland kommt, studiert man Ingenieurwissenschaften nicht in den USA, das ist lächerlich. Aber er hatte sich mit seinem Vater, Teilhaber einer Familienfirma, zerstritten und war nach Amerika ausgerissen. Sein Studium finanzierte er sich selber. Danach kehrte er zurück und machte aus der Familienfirma, die am Rand des Abgrunds stand, eine Weltfirma. In den USA hatte er vor allem das Verkaufen gelernt. Er hielt nie die Mehrheit an der Firma, die anderen Familienmitglieder drängten ihn hinaus. Mit Hilfe der Belegschaft, die ihn unterstützte,

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