Der Überlebende: Roman (German Edition)
bekam er wieder einen Fuß in die Tür, schließlich verkaufte die Familie die Firma, das war die einzige Möglichkeit, den ewigen Streit zu beenden.
Pfarrer Grenzfurtner hatte einmal einen Beitrag über den alten Mann in einer Fernsehsendung gesehen, in der Nacht auf dem Hotelzimmer. Im Interview hatte der Mann gesagt, er habe seinen sechzigsten Geburtstag, das war vor zehn Jahren, allein im Baur au Lac in Zürich verbracht, »aus steuerlichen wie aus persönlichen Gründen«. Pfarrer Grenzfurtner erinnerte sich genau an den Wortlaut. Greta erzählte, sein Abendessen habe aus einem Becher Joghurt bestanden, den er auf dem Zimmer zu sich nahm, danach habe er sich ins Bett gelegt und sich die Decke über den Kopf gezogen, aber er konnte nicht schlafen. Nach einer halben Flasche Johnnie Walker Blue Label konnte er. Greta insistierte, er sei kein Trinker. Die Firma war gegen seinen Willen an den Hauptkonkurrenten verkauft worden. Seine letzte Frau, die dritte, war seine Nachbarin im Baur au Lac, sie hatte sich dort nach dem Tod ihres Mannes eingemietet.
Als er vierzehn war, hätten alle gesagt, er sehe seiner Stiefmutter so ähnlich. Wenn sie mehrere Tage abwesend war, zog er ihre Kleider an und ließ sich von einer Hausangestellten fotografieren. Er war nicht homosexuell. Die Fotos an der Wand bei Greta waren ursprünglich Schwarz-Weiß-Aufnahmen gewesen, die Farben das Ergebnis von Bildbearbeitung, erklärte Greta Pfarrer Grenzfurtner. Alle Fotos und Texte an der Wand hatten etwas mit dem alten Mann zu tun.
Ich habe mich nicht getraut, Pfarrer Grenzfurtner nach den Einzelheiten der Fotos zu fragen, die den alten Mann mit Greta zeigten. Lehnte sie den Kopf an seine Schulter, legte er den Arm um ihre Hüften?
Während des Interviews in der Fernsehsendung hatte der alte Mann öfter durch die Nase geröchelt, so Pfarrer Grenzfurtner. Greta brauchte sich doch nur zu schütteln, und er wäre wie ein Frosch von ihr abgefallen!
Verglich sie ihr Geschick und ihren Kummer mit seinem Schicksal und seinem Leiden? Oder redeten beide um ihre Enttäuschung herum, verwiesen aber nur umso deutlicher auf sie?
Der alte Mann war in Santa Barbara zu einer Pool party eingeladen gewesen. Wie sich später herausstellte, hatten die Techniker der Firma, die den Pool wartete, einen Fehler begangen. Die Absaugpumpe war defekt gewesen, am Morgen vor der Party war sie ausgetauscht worden. Die Techniker hatten ein Modell eingebaut, das für große Schwimmbäder und Sportstätten gedacht und dessen Leistung für den kleinen Pool viel zu hoch war. Mehrere Frauen entledigten sich ihrer Bikinioberteile, eins fiel ins Wasser und wurde sofort zu einem Ablauf am Boden des Pools hingezogen. Der alte, aber nicht unsportliche Mann sprang ins Wasser, um nach dem Teil zu tauchen. Er geriet in den Sog, der so stark war, dass er nicht mehr auftauchen konnte. Sofort schaltete der Gastgeber die Pumpe ab, doch die Gäste konnten den alten Mann nur noch leblos bergen. Er war gar nicht so lange unter Wasser gewesen, aber als Folge der Anstrengung, dem Sog zu entkommen, hatte er einen Herzinfarkt oder einen Gehirnschlag erlitten. Einem anwesenden Arzt gelang es, sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, man konnte ihn jedoch nicht mehr zu Bewusstsein erwecken. Seither lag er im Koma in einer Klinik in Los Angeles. Seine Frau hatte ein Haus im Valley gekauft, um ihrem Mann nahe zu sein.
Zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie die Patentkonferenz fand auch die Jahrestagung des Kandor Clubs statt. Bevor ich Greta traf, testete ich noch einige Kandidaten. Ich fragte die Ingenieure und Ingenieurinnen über Schleifen-Quantengravitation aus, das ist eine Raumzeit-Theorie, die versucht, die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik zu vereinigen. Jedes Volumen wird durch Schleifen erzeugt. Der Raum ist eine Art Gitterwerk aus Schleifen, entfernt man die Schleifen, gibt es keinen Raum mehr. In der Relativitätstheorie ist das Tuch der Raumzeit gewissermaßen aus Gummi, in der Schleifen-Quantengravitation ist es gewoben. Natürlich ging es nicht darum, Wissen zu testen. Je weniger ein Kandidat oder eine Kandidatin wusste, desto interessanter war, wie er oder sie sich aus der Affäre zu ziehen versuchte.
Nach Abschluss der Interviews hatte ich noch ein Abendessen mit dem CEO von D’Wolf America und seinen wichtigsten Managern. Als ich das Hotel für die Verabredung mit Greta verließ, traf ich in der Lobby die weiblichen Prüflinge wieder, die allesamt
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