Der Umweg nach Santiago
im Spiegel insgesamt sieben anderen dann an? Nicht mich, obwohl sie doch zu mir schauen. Den König und die Königin, die sich aus der Ferne gespiegelt sehen? Aber wenn der Maler auf dem Bild, das ich nicht sehen kann, den König und die Königin malt, wie kann er sie dann hinter sich in dem Spiegel auf dem Bild gemalt haben, das ich sehen kann?
Drei, vielleicht fünf. Das Gesicht des Mannes, der hinter der wasserköpfigen Zwergin steht, liegt im Halbdunkel, so daß ich nicht genau weiß, wohin er schaut. Das gilt auch für den Mann in der hellerleuchteten Türöffnung, der der Wächter zur geöffneten Außenwelt zu sein scheint (und so zumindest die Möglichkeit eines Auswegs aus dem Labyrinth suggeriert). Aber die strahlende kleine Prinzessin, die Sonne, um die die beiden planetarischen Hofdamen ( meninas ) kreisen, sieht mich (der ich nicht da bin) anoder ihre Eltern (die dem Spiegel zufolge da sind). Was Velázquez hier am Ende seines Lebens malt, ist der Seufzer eines Kindes, ein Flaum, der sich mühelos wegpusten läßt. Und auch wenn er es nicht wußte, er wußte es doch. Mit fünfzehn wird sie Kaiserin von Österreich, mit zweiundzwanzig ist sie tot. Aber jetzt (!) schaut sie noch, genauso wie der Maler schaut, wie der mächtige Wasserkopf schaut, und als ich mich umdrehe und weggehe und wieder zurückkehre, schauen sie immer noch, und in ihrem Blick ist etwas, das mich an etwas erinnert, und als ich lange genug nachdenke, weiß ich auch, was es ist.
Einmal, in Bangkok, wollte ein Freund mir etwas zeigen, was ich »noch nie gesehen hätte«. So war es. In einer Halle hinter einem Tor befand sich ein großes Schaufenster, das ist noch das beste Wort, in dem etwa dreißig Frauen saßen. Sie trugen Nummern, strickten, schwatzten oder starrten vor sich hin. Manchmal sahen sie einen an, aber es war etwas Unangenehmes an diesem blinden Blick, als schauten sie mitten durch einen hindurch oder sähen einen überhaupt nicht, obwohl sie einen weiterhin anblickten und man selbst auch zurückblickte. Auf meiner Seite der Glasscheibe standen Männer, die eine Nummer aussuchten und dann hineingingen. Dann sah man eine Frau aufstehen, wahrscheinlich wurde eine Nummer aufgerufen, doch das war nicht zu hören. Das war das Geheimnis, wir konnten nichts hören, sie konnten nichts sehen. Die Schaufensterscheibe war auf der anderen Seite verspiegelt. Sie sahen sich selbst, nicht uns.
»Du darfst nicht vergessen, daß dieses Bild eine Konstruktion ist«, sagt Rudy Fuchs, den ich zufällig auf dem Flughafen in Barcelona treffe. »Du darfst dich auf dieses Bild gar nicht erst einlassen«, sagt Jeroen Henneman, den ich ein paar Tage später in Amsterdam sehe. Aber wenn es nun ein Spiegel wäre, in den sie schauen, nicht nur der Maler, sondern auch sie, Zwerg, Prinzessin, Höfling, menina ? Und der Hund folglich nicht, denn Hunde schauen nicht in den Spiegel. Und der König und die Königin, wie können die sich in dem Spiegel im Bild spiegeln, wenn sie nicht davorstehen? Aber sie können doch neben dem Spiegel stehen,der alles reflektiert, inklusive ihres Spiegelbilds? Ich habe versucht, das Ganze von oben zu zeichnen, als Grundriß, mit Linien für Blickrichtungen und Spiegelungen, aber natürlich bin ich daran gescheitert. Dieses Rätsel wurde konstruiert, um mich auszuschließen und damit hineinzulocken. Eine Konstruktion, in der Tat. Und man sollte sich gar nicht erst darauf einlassen. Aber noch, wenn man durch das Bild hinausgegangen ist – José Nieto Velázquez, kein Verwandter, jefe de la tapicería de la reina , hat beflissen den Vorhang vor der hellerleuchteten Türöffnung aufgehalten –, spürt man die zähen Fäden eines unsichtbaren Spinnennetzes um sich, das ein Mann vor dreihundert Jahren für einen gesponnen hat.
Tor des Alcañiz
Ich verlasse Madrid und fahre über Sigüenza nach Alcañiz in Aragonien. Tafelberge, Wüstenei, ab und an ein paar blühende Mandelbäume. Der Boden hat die Farben Zurbaráns, nicht Velázquez’, die Farbe von Erde, Dürre, Kutten. 1644 ist der König hier mit seinem Gefolge unterwegs. Im Jahr zuvor ist sein Heer bei Rocroi mit 20 000 Mann vernichtend geschlagen worden. Seither zerbröckelt sein Weltreich, dies war die Wende. An der Grenze zu Katalonien machen sie halt in Fraga, in einem baufälligen Haus malt der Maler den König und seinen Zwerg. In dem Landstrich, durch den sie gezogen sind, war der König nicht mehr willkommen, aber hier steht er drei Tage lang Modell. Jeden Tag
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