Der Umweg
Gesundes zu sein.«
»Nein, ich meine Dinge, die gar nicht da sind. Oder ich stelle mir etwas nur vor, und dann rieche ich es doch, als wäre es da.«
Darauf ging der Arzt nicht ein. »Wenn ich dir diese Mittel verschreibe …«
Sie schaute ihn an, versuchte ihm anzusehen, was er sagen wollte. »Ich bin Touristin«, wiederholte sie. »Daß ich hier sitze, ist reiner Zufall. Ich hätte auch zu einem Arzt in Bangor fahren können.«
»Ich kann das nicht verantworten.«
Sie zeigte auf den inzwischen mehr als halbvollen Aschenbecher. »Und was ist mit Ihnen?«
»Bitte?«
»Sie rauchen sich hier tot, unter einem Poster mit dem nackten Arsch eines Schwarzen und unter einem Kreuz. Sie haben sogar Witze darüber gemacht. Hält Sie irgend jemand zurück?«
Er schaute auf die Wand. »Ich verstehe nicht ganz …«
»Diese Raucherei, stört die denn niemanden? Macht sich niemand Sorgen?«
Der Adamsapfel stieg auf und ab. »Meine Frau beklagt sich.« Er räusperte sich, hustete dann.
»Aber Sie lassen sich von ihr nicht abhalten.«
»Nein. Läßt du dich von irgend jemandem abhalten?«
»Nein. Ich bin allein. Ganz allein. Haben Sie von meinem vorigen Besuch Notizen gemacht?«
»Natürlich.«
»Vernichten Sie die. Vergessen Sie, daß ich hier bin.« Sie blickte ihn unverwandt an. »Muß mein Name auf dem Rezept stehen?«
»Nein.«
»Was dann?«
Der Arzt erwiderte ihren Blick. Saugte an seiner Zigarette, die schon fast bis zum Filter abgebrannt war, starrte in den Aschenbecher. Im Wartezimmer wurde ein Stuhl gerückt, es war deutlich zu hören. Er warf die Kippe in den Aschenbecher, ohne sie auszudrücken. Anschließend öffnete er eine Schublade und holte nach längerem Suchen ein Formular heraus, das er langsam faltete, zweimal, und dann zerriß. Die Schnipsel verschwanden in einem Papierkorb. Er nahm einen Kugelschreiber und begann ein Rezept auszustellen. »Du weißt, wo die Apotheke ist. Ich gebe dir jetzt das Rezept mit, und ich will dich hier nie wieder sehen.«
»Die stärksten, die es gibt.«
Ohne aufzuschauen, zerknüllte er das Papier und schrieb ein neues Rezept. Er reichte es ihr. »Ich kenne dich nicht«, sagte er.
Eine Frau saß im Wartezimmer. Eine Frau mit hochgestecktem, blondiertem Haar. Spärlich im Schein der eingeschalteten Leuchtstoffröhren. Sie blätterte in einer uralten Zeitschrift. » Hello, love «, sagte die Frau.
Shirley, dachte sie. Hätte ich mir einen Namen für sie ausdenken müssen, hätte ich genau diesen gewählt. »Guten Morgen.«
»So förmlich! Wie gefällt dir deine neue Frisur?«
»Wie meinen Sie?«
»Dein Haar. Gefällt’s dir so?«
»Was ist denn mit meinem Haar?«
»Das hab ich doch neulich erst geschnitten!?«
»Ich habe das Haar immer so gehabt.«
Shirley starrte sie mit offenem Mund an.
»Kostenlose Behandlung?« fragte sie die Friseurin.
»Was?
»Entschuldigen Sie, ich muß Sie verwechselt haben.« Sie öffnete die Tür und trat schnell auf den beschneiten Gehweg hinaus. Vorsichtig, mit kleinen Schritten, ging sie in Richtung Apotheke. Der Friseurladen war kaum beleuchtet, nur die Lämpchen um einen der vier Spiegel brannten, die Tür war diesmal nicht angelehnt. Im Schaufenster der Parfümerie gegenüber stand ein großes Ausverkaufsschild, alle Artikel um fünfzig Prozent reduziert. Irgendwann wird es hier nur noch Dachse geben, die Leute ziehen schon von sich aus weg , hörte sie den Mann sagen, der sie nicht mehr kannte. Oder sie sterben einfach, das natürlich auch . Die Apotheke war geöffnet, es standen sogar mehrere Kunden vor dem Ladentisch. Hier kein Ausverkauf.
Der junge Mann, der sie bediente, starrte lange auf das Rezept und schaute dann sie an, wahrscheinlich, um zu fragen, warum der Patientenname fehlte. Sie erwiderte den Blick, wie sie kurz zuvor die Friseurin angesehen hatte, und der junge Mann begab sich nach hinten. Als sie die Plastiktüte mit den Tabletten ausgehändigt bekommen hatte, ging sie auf der anderen Straßenseite zum Parkplatz zurück. Für Bradwen, fiel ihr ein, hatte sie das Haar tatsächlich immer so gehabt. Er kannte sie nicht anders. Auch nicht der Hund, der in ihr angeblich eine Artgenossin sah. Ein Outdoorladen, das Geschäft, aus dem die Karte war, hatte Männerköpfe mit Mützen im Schaufenster. Eine der Mützen, von Patagonia, war pastellblau mit einem Rand in verschiedenen anderen Blautönen, sehr hell bis sehr dunkel, die Streifen erinnerten an einen Barcode. Sie mußte an den Berg denken und daran, was
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