Der unausweichliche Tag - Roman
Aramon im Laufe der Jahre ausrangiert hatte, war sie hellauf begeistert von ihrer eigenen List. Die Leute hielten sie für einfältig. Nur weil Audrun es nicht vermocht hatte, mit einem Ehemann, den sie liebte, ein anständiges Leben zu führen, glaubten sie, sie habe keine Ahnung, wie die Welt funktioniert. Doch jetzt stellte Audrun sich im Stillen die Frage: Wie viele von ihnen hätten denn das tun können, was sie getan hatte? Wie viele hätten es tun und dabei ein solches Glücksgefühl erleben können?
Später fuhr der Mannschaftswagen an ihrer Tür vorbei. Gelbes Scheinwerferlicht durchschnitt die Dunkelheit. Und Audrun wusste, dass Aramon dort in dem Wagen saß. Sie malte sich die Zelle aus, in die er gebracht werden würde, malte sich aus, wie sein alter Vogelscheuchenkopf auf ein unbequemes Lager sank und wie er vor Verstörung schielend diesen unbekannten Raum anstarrte.
V eronica wurde zur Leichenhalle des Krankenhauses von Ruasse gebracht.
Ihr war am Telefon mitgeteilt worden, dass die gerichtsmedizinische Identifikation mittels DNA-Proben schon eindeutig geklärt worden sei; sie werde ihren Bruder nicht identifizieren müssen; die Zeiten, in denen Verwandten diese Tortur zugemutet wurde, seien – in sehr vielen Fällen und eben auch in diesem – vorbei.
Doch Veronica wusste, solange sie Anthony nicht gesehen und sich selbst davon überzeugt hatte, dass die Welt sie nicht anlog, würde sie nicht glauben können, dass er tot war. Und dann würde sie wahrscheinlich wahnsinnig werden. Sie würde an ihrem Fenster sitzen und auf das Geräusch seines Autos horchen. Sie würde dasitzen und lauschen und darüber alt werden. Sie würde weiter in seinem Zimmer Staub wischen und das Bett lüften. Sie würde niemals den Glauben verlieren, dass er eines Tages zur Tür hereinkäme.
Jetzt blickte sie auf einen grauen, aufgequollenen Leichnam. Einen Haufen verwesenden, stinkenden Fleischs mit verschwundenen Gesichtszügen in einem halb zugezogenen wasserdichten Sack.
Es könnte irgendjemand sein … hätte sie am liebsten gesagt. Das ist ganz bestimmt nicht Anthony. Er war ein schlanker Mann. Seine Haare waren kräftig und gelockt, seine Hände feingliedrig …
Doch sie sah, dass er es war.
Mitleid überwältigte sie. Es war wie der lange, langsame Satz einer Symphonie, ein tiefes, grenzenloses Mitleid.
Man brachte sie in einen kleinen Raum, wo sie sich erholen konnte. Sie setzte sich auf ein hartes Sofa. Ein Angestellter derLeichenhalle brachte ihr Wasser. In England wäre es kein Wasser, dachte sie, sondern Tee, aber das war nicht wichtig.
All diese Einzelheiten hatten nicht die geringste Bedeutung – und würden es auch nie mehr haben.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen und was sie tun sollte. Sie dachte daran, wie das Leben im Krankenhaus über ihr und um sie herum weiterging. Ärzte und Schwestern, die von der Station zum Operationssaal, von dort zum Aufwachraum und wieder zurück zur Station hasteten und versuchten, Leiden zu lindern, Leben zu retten. Und Patienten, die so rührend daran glaubten, ihr Leiden werde besiegt, ihr Leben gerettet! Und die dabei vergaßen, dass am Ende jede Schlacht verloren wird. Absolut jede.
Der junge Assistent, ein Student Mitte zwanzig, war bei Veronica geblieben. Er kniete sich neben sie und hielt ihre Hand. Über seinem grünen Overall trug er eine grüne, gründlich gescheuerte Plastikschürze und auf dem Kopf eine dünne, weiche Kappe.
»Ich weiß, dass ich jetzt alles Mögliche zu erledigen hätte«, sagte Veronica zu diesem jungen Mann. »Jede Menge Dinge. Aber es fällt mir nichts davon ein.«
Er schüttelte den Kopf. »Es wird Ihnen später alles wieder einfallen, Madame«, sagte er sanft.
»Da bin ich nicht sicher«, sagte Veronica. »Ich habe das Gefühl, dass mein Verstand sich … mehr oder weniger … einfach aufgelöst hat.«
»Das ist normal«, sagte der Pathologie-Assistent. »Absolut normal. Das ist der Schock. Können Sie schon wieder aufstehen? Dann bringe ich Sie zu dem Polizeiauto, und man fährt Sie nach Hause.«
»Wie heißen Sie?«, fragte Veronica in einem liebevollen, mütterlichen Ton.
»Paul«, sagte der junge Mann.
»Paul«, wiederholte Veronica. »Das ist ein sehr hübscher Name. Leicht zu merken. Das gefällt mir.«
So viele Dinge zu erledigen …
Aber sie tat nichts. Sie wusste, dass das beklagenswert war.
Sie saß auf der Terrasse und sah den Blättern beim Fallen zu. Sie saß so still, dass ihre Füße fast
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