Der unausweichliche Tag - Roman
zum Beispiel selbst einen Rundgang mit ihnen machen. N ’est-ce pas? Ich könnte erklären, dass Sie krank sind. Wir würden es so arrangieren, dass Sie in Ihrem Zimmer nicht gestört würden …«
»Nein«, sagte Aramon. »Nein. Mir sind Dinge widerfahren … Verstehen Sie doch. Wir müssen das alles erst einmal streichen.«
»Streichen? Wie meinen Sie das?«
Aramon blickte aus dem Fenster und sah gelbe Blätter im Wind wirbeln, als wäre es schon Herbst. Er stellte sich vor, wie sie auf die steinerne Grabstätte seiner Eltern niedersegelten und dort liegen blieben.
»Stornieren Sie den Verkauf«, sagte er. »Im Moment kann ich mich nicht darum kümmern.«
Als Audrun am nächsten Tag bei ihm erschien, erklärte sie, er habe richtig gehandelt.
»Deine einzige Chance ist, dass du alle von hier fernhältst, Aramon,«, sagte sie. »Verbarrikadier dich. Versteck dich. Warte, bis alles vergessen ist. Vor allem musst du das Auto wegschaffen.«
Er erklärte ihr, er habe Tag und Nacht nach dem Schlüssel gesucht. Er sagte: »Ich schwöre, dass ich schon in meinen Träumen durchs Haus wandere und den Schlüssel suche … aber ich finde ihn nicht.«
»Hast du in der Truhe nachgesehen?«, fragte Audrun, »wo die alten Familienpapiere liegen?«
»Das weiß ich nicht mehr«, erwiderte Aramon. »Ich weiß nicht mehr, wo ich gesucht habe und wo nicht.«
Sie fasste ihn an seinem dünnen Handgelenk und führte ihn in den Salon. Sie öffnete die gegen die Mittagshitze geschlossenenFensterläden, damit Licht ins Zimmer kam, und dann knieten Aramon und sie Seite an Seite vor der Truhe.
Sehr schnell stießen sie auf Fotografien von Bernadette, und ihr Anblick schien Aramons Aufregung zu dämpfen. Auf einem Schwarzweißfoto führte Bernadette den Esel, der schließlich in dem Stall gestorben war, an einem Strick. Audrun fiel auf, dass beide, Bernadette ebenso wie der Esel, sehr mager, fast verhungert wirkten, und sie dachte bei sich, dass dieses Bild das Leben beschrieb, das die Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts in den Bergen der Cevennen hatten ertragen müssen: Sie mussten Hunger ertragen. Und dann erinnerte sie sich wieder, dass auch sie ihn als Kind ertragen hatte und dass das ganz normal gewesen war, einfach zum Alltag gehört hatte, zu jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat, und dass allein die Dinge, die später geschahen, wirklich unerträglich gewesen waren.
Nachdem sie einige Bündel mit Briefen und alten Zeitungen herausgenommen hatten, sagte Audrun: »Du weißt, dass wir all diese Unterlagen einmal systematisch durchsehen sollten. Sie könnten wichtige Dinge enthalten.«
»Vielleicht waren die früher mal wichtig«, sagte Aramon. »Aber jetzt sind doch alle tot. All diese Nachrichten sind tote Nachrichten …«
»Und die Briefe?«
Aramon rieb sich die Augen. »Worte«, sagte er. »Nur Worte.«
Audrun griff nach einem Brief mit Serges Handschrift und las ihn laut vor: » Meine liebe Frau, diese Nächte sind so schrecklich bitterkalt, und ich bete, dass sie in La Callune besser sind, für dich und unseren geliebten Sohn Aramon und das kleine Mädchen …«
» Geliebter Sohn ?«, sagte Aramon. »Hat er das gesagt?«
Audrun reichte ihm den Brief. »Ja«, sagte sie. »Lies selbst.«
Er setzte sich umständlich die Brille auf und begann zu lesen. Er rührte sich nicht. Audrun sah, dass ihm Tränen über die zerfurchten Wangen liefen.
»Aramon«, sagte sie sanft. »Wenn du stirbst, wer erbt dann das Mas?«
»Du«, antwortete er. »Nach dem Gesetz ist das so. Du bist meine einzige lebende Verwandte. Deshalb bekommst du alles – solange es nicht verkauft ist und du noch atmest.«
Er schaute sie an, wie sie da neben ihm kniete, und es schien ihm nichts auszumachen, dass sie sein tränennasses, kummervolles Gesicht sah. »Du könntest es in Ordnung bringen«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Was meinst du, Audrun? Du könntest sogar deine alte Flamme Molezon bitten, dass er sich den Riss genauer vornimmt. N ’est-ce pas ? Falls er seinen Arsch noch die Leiter hochkriegt.«
Sie nickte bedächtig.
Aramon legte Serges Brief beiseite und begann, die restlichen Papiere in der Truhe durchzusehen. Dann richtete er sich auf.
»Da ist der Schlüssel nicht drin«, sagte er. »Es wäre mir doch wieder eingefallen, wenn ich ihn zu all diesem Familienkrempel gelegt hätte.«
K itty lag in der Hängematte unter einem schmalen Mond. Sie starrte hoch zu der hellen Sichel und zu den Sternen, die wie ein
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