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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Granatsplitterregen über den Himmel verstreut waren.
    »Herzlos!«, hatte ihre Mutter häufig gesagt, wenn sie in die Dunkelheit über Cromer hinaufschaute. »Erhoff dir bloß keinen Trost vom Nachthimmel.«
    Kitty brachte die Hängematte sanft zum Schaukeln. Sie hatte sich in eine dünne Decke gehüllt, und ihr Kopf ruhte auf einem gestreiften Kissen. Um sie herum war der Garten fast verstummt. Nur hin und wieder hörte sie ein paar Zikaden oder eine Zwergohreule mit ihrem ängstlichen » Uh-uuuh, uh-uuuh «. Der Mistral hatte sich gelegt. Die Äste der beiden Kirschbäume, zwischen denen die Hängematte aufgespannt war, bewegten sich nicht. Im Haus war alles still.
    Neuerdings verbrachte Kitty ihre Nächte am liebsten hier draußen. Sie fand es in Ordnung, allein zu sein, allein in der Dunkelheit, allein mit sich und ihrem kleinen Verstand. Denn an den musste sie sich halten. Sie musste sich daran festhalten, dass sie Kitty Meadows war, fünfundfünfzig Jahre alt, Aquarellmalerin, Fotografin, Liebhaberin von Frauen. Sie musste sich selbst in Erinnerung rufen, dass sie da war , dass sie existierte und dass sie eine irgendwie geartete Zukunft vor sich hatte. Niemand hatte ihr das Leben genommen.
    Doch sie würde Les Glanique gern verlassen. Würde jetzt gern fortgehen von dem Ort, wo sie glücklicher gewesen war als irgendwo sonst in ihrem Leben. Fortgehen, ehe ihr das Leben tatsächlich genommen wurde. Denn derart aus Veronicas Herzen ausgestoßen zu sein, brachte sie einfach um. Mit jedem Tag fühlte Kitty sich kleiner, hässlicher, nutzloser. Und ein Ende all dessen war nicht abzusehen. Es sei denn, Anthony Verey würde wie durch ein Wunder nach Les Glaniques zurückkehren, zurück zu seiner Schwester …
    Es war Kitty ziemlich egal, wohin sie ging. Sie beschloss, ein Flugticket an einen Ort zu kaufen, der in ihren Reiseplänen bisher noch nie vorgekommen war: Fidschi-Inseln, Mumbai, Kapstadt, Havanna, Nashville Tennessee … Sie wiegte sich selbst in den Schlaf, indem sie sich Bilder dieser Orte ausmalte, fidschianische Kriegstänze sah, Countrysongs hörte.
    Aber ihr Schlaf war seltsam, fast als finde er gar nicht richtig statt, außer in kurzen, lebhaften Träumen, und als der Himmel hell wurde, war Kitty einfach nur verblüfft, weil ein Stück Zeit vergangen war, ohne dass sie es wahrgenommen hatte.
    Sie lag still in ihrer Hängematte und sah hinaus in den ziemlich verdorrten Garten. Vögel kamen von ihren Schlafplätzen heruntergeflogen, um im Gras nach Würmern zu suchen, doch das Gras war ganz staubig und mit einem Teppich aus braunen Blättern bedeckt, die schon von den Kirschbäumen fielen. Die Lavendelblüten, in denen ein paar Bienen nach Nektar suchten, hatten alle Farbe verloren. Die Lorbeerbüsche waren von Miniermotten befallen, und die Blätter waren blasig und rollten sich. Die Oleanderblüten begannen zu welken und fielen ab.
    Der Brunnen war so gut wie ausgetrocknet. Die Bürgermeister aller Dörfer der Umgebung hatten den Einsatz von Gartenschläuchen verboten. Nur Gemüse durfte gegossen werden; sonst nichts. Nicht einmal die sterbenden Obstbäume.
    »Am traurigsten wäre es ja«, hatte Kitty zu Veronica gesagt, »wenn wir die Aprikosenbäume verlieren würden.«
    »Nein«, hatte Veronica erwidert. »Es gibt nur eins, was traurig ist. Alles andere finde ich momentan nicht wichtig. Nicht einmal den Garten.«
    Ausnahmsweise war Kitty beharrlich geblieben. Sie hatte Veronica an den ersten gemeinsamen Sommer in Les Glaniques erinnert, als sie noch herausfinden mussten, was im Garten gedieh und was einging. Als damals die Aprikosenbäume zum ersten Mal Früchte trugen, waren sie von der süßen, üppigen Ernte schlicht überwältigt. Sie schwelgten in den saftigen, rosaüberhauchten Aprikosen. Sie kochten Marmelade und backten Obstkuchen und Torteletts. Als Veronica Kitty einmal im Bett mit Aprikosen fütterte, sagte sie: »Eine Welt ohne Aprikosen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Du?«
    Aber Veronica bremste dieses Schwelgen in der Vergangenheit. Sie hob die Hände, als wollte sie einen Zug anhalten. Sie sagte, sie wolle nicht über all diese »Normalitäten« nachdenken. Sie sagte, sie finde jede Beschwörung von Normalität anstößig. Genau das Wort hatte sie benutzt: anstößig .
    Dann hatte sie das Gesicht in den Händen verborgen. Und als Kitty auf ihren gebeugten Kopf schaute, sah sie, dass Veronicas Haar – ihr dichter Haarschopf, der gewöhnlich frisch und sauber glänzte –

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