Der und kein anderer Roman
ins Detail. Sie hörte auch dann nicht auf, als Shirley sie zu sich gerufen und mit ihrer Arbeit begonnen hatte. Da Gracie Lügen verabscheute, musste sie sich sehr konzentrieren, die Wahrheit so zu biegen, dass sie nichts Falsches sagte. Aus diesem Grund konnte sie nicht genau beobachten, welcher Schaden ihrem Haar zugefügt wurde. Sie hätte es ohnehin nicht sehen können, denn Shirley hatte den Stuhl so gedreht, dass sie sich selbst nicht im Spiegel sehen konnte.
»Deine Dauerwelle ist eigentlich gar nicht schlecht, Gracie. Aber du hast sehr dichtes Haar. Wir sollten ein paar Stufen schneiden. Ich liebe Stufen.«
Shirleys Scheren klapperten ohne Unterlass. Ringsum fielen nasse, kupferfarbene Haarsträhnen zu Boden.
Gracie umschiffte die Frage über die Regelmäßigkeit ihres Zyklus, während sie sich Sorgen machte, was mit ihrem Haar geschah. Falls Shirley es zu kurz schneiden sollte, würde sie es nie und nimmer wieder zu einem Zopf flechten
können. Zwar war diese Frisur nicht sonderlich schmeichelhaft gewesen, aber sie war ordentlich und außerdem das, woran sie gewöhnt war.
Eine schwere, fast zehn Zentimeter lange Locke fiel ihr in den Schoß und verschlimmerte ihre Befürchtungen. »Shirley, ich …«
»Janine wird dich schminken.« Shirley deutete mit einer Kopfbewegung auf die andere Angestellte. »Gerade diese Woche hat sie mit dem Verkauf von Mary Kay begonnen und sucht noch nach Kunden. Bobby Tom meinte, er wollte einen ganzen Satz neuer Schminkutensilien kaufen, um das Zeug zu ersetzen, dass du in Südamerika während des Erdbebens verloren hast, als du den Vizepräsidenten beschützt hast.«
Fast hätte Gracie einen Schluckauf bekommen, dann musste sie ihr Lachen unterdrücken. Es war zum Verrücktwerden, doch sehr unterhaltsam.
Shirley schaltete den Föhn ein und drehte den Stuhl wieder dem Spiegel zu. Gracie rang entsetzt nach Luft. Sie sah aus wie eine nasse Ratte.
»Ich werde dir jetzt zeigen, wie du das selbst hinbekommst. Es ist alles eine Frage des Fingerspitzengefühls.« Shirley begann, an ihren Haaren zu zupfen. Gracie stellte sich vor, wie es ihr vom Kopf abstand. Vielleicht konnte sie es mit einem breiten Haarband bändigen, dachte sie verzweifelt. Oder aber sie könnte sich eine Perücke kaufen. Doch dann, und zwar so allmählich, dass sie es selbst kaum glauben konnte, vollzog sich eine wunderbare Wandlung.
»Nun, das hätten wir.« Shirley trat einen Schritt zurück, ihre Finger hatten einen Zauber vollbracht.
Gracie starrte ihr Spiegelbild an. »Oh, mein Gott.«
»Wirklich süß, nicht wahr?« Shirley grinste.
Süß war wohl kaum der richtige Ausdruck. Gracies Haarschnitt war ausgesprochen modern. Wild, unbekümmert,
sexy. Er war all das, was Gracie nicht war, und ihre Hand zitterte, als sie die Frisur berührte.
Der Schnitt war viel kürzer, als sie es gewohnt war. Die Haare reichten ihr gerade bis zum Kinn, sie hatte einen Seitenscheitel und ein paar Ponysträhnen. Es war überhaupt nicht strohig, sondern fiel in sanften, schönen Wellen. Einzelne Locken umrahmten ihre Wangen und Ohren. Ihre zarten Gesichtszüge und die schönen grauen Augen wurden nicht mehr durch das Gewicht ihrer alten Frisur erdrückt. Gracie war von ihrem Spiegelbild begeistert. War das wirklich sie selbst?
Sie hatte sich noch nicht annähernd satt gesehen, als Shirley sie bereits an Janine für das Make-up weitergab. Während der nächsten Stunde lernte Gracie alles Mögliche über Hautpflege und die Anwendung von Make-up, die ihre von Natur aus ebenmäßige Haut betonen würde. Lidstriche, bernsteinfarbene Lidschatten, dunkle Wimperntusche – Janine machte ihre Augen zum auffälligsten Merkmal ihres Gesichtes. Als sie zufrieden war, ließ sie Gracie das Ganze noch einmal selbst auftragen. Gracie verteilte Rouge auf ihren Wangenknochen, dann benutzte sie einen weichen, korallenfarbenen Lippenstift, den Janine ihr gereicht hatte. Begeistert betrachtete sie ihr Spiegelbild und konnte kaum glauben, dass die Frau, die ihr entgegenblickte, wirklich sie selbst war.
Das Make-up war unauffällig und schmeichelnd. Mit ihrem kurzen, leicht wilden Haarschnitt, den leuchtenden grauen Augen und den betonten Wimpern sah sie hübscher aus, als sie es sich vorzustellen gewagt hatte: weiblich, begehrenswert und, ja, sogar ein bisschen draufgängerisch. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie sah total anders aus. Könnte Bobby Tom vielleicht jetzt Gefallen an ihr finden? Vielleicht würde er sie nun in neuem
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