Der ungeladene Gast
Verbindung nicht infrage kam. Zu Hause in Berkshire und auch in Cambridge, wo sie seit Kurzem Geschichte studierte, gab es jede Menge älterer, ernsthafterer Männer, die ein Auge auf sie geworfen hatten, dachte sie, und sie hegte keinerlei Absichten in Bezug auf dieses Kind, diesen Clovis Torrington. Trotzdem irritierte es sie, wie oft ihre Gedanken unsicher um sein jugendlich-romantisches Aussehen kreisten – selbst in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Bei ihrer letzten Begegnung war sie unbekümmerte siebzehn gewesen und er ein ungestümer Fünfzehnjähriger. Die Beerdigung seines Vaters zählte sie nicht als Besuch, doch selbst bei dieser traurigen Gelegenheit hatte sie das beunruhigende Bedürfnis verspürt, ihn in die Arme zu nehmen und ihm über die Haare zu streichen. Damals hatte sie sich diesen Wunsch mit schwesterlicher Anteilnahme erklärt, aber nun entlarvte ihr flatternder Puls diese Erklärung als Lüge.
Ungeachtet ihrer gemeinsamen Vergangenheit und ihres pochenden Herzens schlug die Waagschale der Macht, entschied Patience in diesem Augenblick, zweifellos zu ihren Gunsten aus. Schließlich konnte er ihre Gedanken nicht lesen und würde folglich nie erfahren, wie faszinierend sie es fand, ihn anzusehen.
Sie wandte den Blick ab und sagte herzlich: »Gut gemacht, Ernest«, denn das Feuer im geräumigen Kamin loderte wieder hell auf. Ernest setzte sich.
»Eigentlich hättest du dich um das Feuer kümmern müssen, Clovis«, sagte Emerald vorwurfsvoll. Er setzte sich aufgebracht zur Wehr.
»Wozu zum Teufel haben wir Dienstboten?«
Emerald widerstand der Versuchung, ihm die Nase abzubeißen. Sie hatte sich selbst das Versprechen gegeben, vor den Gästen nicht mit ihrem Bruder zu streiten, aber er verhielt sich so unmöglich, dass sie nicht wusste, ob sie ihr Versprechen würde halten können.
»Es war sehr nett von dir, dich um das Feuer zu kümmern«, sagte sie liebenswürdig zu Ernest.
»Nicht der Rede wert«, antwortete er und klopfte sich die Knie ab. Ihr fiel auf, dass er etwas zu groß für den Sessel war, ein Möbelstück mit Knopfpolsterung und kurzen Dackelbeinen aus Mahagoni.
Als sie ihn unauffällig unter gesenkten Lidern hervor betrachtete, stellte sie fest, dass sie entgegen ihrem ersten Eindruck von vorhin den Jungen von früher doch mit Leichtigkeit wiedererkennen konnte. Die Adlernase und das kantige Kinn, die das schmale Kindergesicht beherrscht hatten, fügten sich nun perfekt in die nicht unattraktiven, asymmetrischen Züge. Die grellroten Haare waren zu einem rötlichen Braun nachgedunkelt, aber die Augen, die, es ließ sich nicht leugnen, vor dem erzwungenen Tragen einer Augenklappe befremdlich im Widerspruch zueinander gestanden hatten, waren immer noch – sie riskierte einen weiteren Blick – auf frustrierende Weise unergründlich. Verborgen hinter Brillengläsern, waren sie für sie ein Rätsel gewesen, solange sie Ernest kannte, aber bis zu diesem Moment hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht.
Ernest tat so, als bemerkte er ihre Musterung nicht, innerlich jedoch wand er sich unter ihrem Blick, einem Blick, der trotz der sanften Wimpern und obwohl er immer nur kurz bei ihm verweilte, geradezu durchdringend war. »O mein Gott«, dachte er hilflos, aus der Fassung gebracht. »Sie lacht über mich.«
»In diesem Zimmer gibt es doch ein Geheimversteck, oder?«, fragte Patience überraschend.
»Das weißt du noch?«, lächelte Emerald, und die Erinnerung an kindliche Versteckspiele milderte die erwachsenen Anspannungen, die inzwischen vorherrschten.
»War es nicht …« Patience sah sich um, betrachtete die Wände und die Regale.
Die Bibliothek mit ihrer schimmernden Holzverkleidung war ein überaus angenehmer Raum. Als Charlotte und Horace das Haus bezogen hatten (zu einer Zeit, als Charlotte mit nichts anderem beschäftigt war, als das ungebärdige, in Spitzen gekleidete Baby Emerald durch die Gegend zu tragen, zu schieben oder sonst wie zu transportieren), wurde die Bibliothek als Billardzimmer benutzt, und die Regale enthielten eine abscheuliche Majolikasammlung oder wurden auf andere Weise zweckentfremdet. Die Torringtons gaben den Viktorianern die Schuld und machten sich daran, dem Raum seine ursprüngliche Bestimmung zurückzugeben, erst mit gut hundert Lieblingsbüchern aus ihrem bisherigen Domizil, einem (unspektakulären) Vororthaus, dann durch gelegentliche, hoch geschätzte Neuerwerbungen anlässlich aufregender Besuche in
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