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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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Telefon auf dem Tisch unter der Treppe den Hals reckte und vorwurfsvoll zu ihr aufsah, aber im oberen Stockwerk war es, als hätte es keinen Unfall auf einer Nebenlinie gegeben. Alles war so, wie es sein sollte. Emerald zeigte Patience und Ernest, wo das Badezimmer lag (das sich seit ihrem letzten Besuch weder von der Stelle bewegt hatte noch mit irgendwelchen Neuerungen ausgestattet worden war), und Patience bekundete über alles helles Entzücken. Zu Emeralds Kummer blieb Charlottes Tür fest geschlossen.
    »Ich bin so gespannt, ob das Geschenk, das ich dir mitgebracht habe, dir auch gefallen wird«, sagte Patience, die beim Gehen auf den Fußballen wippte. »Es ist so lange her, seit wir uns gesehen haben. Vielleicht hast du dich völlig verändert.«
    »Ich glaube, ich habe mich überhaupt nicht verändert«, sagte Emerald, wohl wissend, dass das eine Lüge war, aber zwischen ihr und ihrem kindlichen Ich lag eine dichte Nebelwand des Kummers und zahlloser kleiner Entbehrungen, die sie nicht anrühren wollte.
    »Dein Zimmer«, sagte sie zu Patience.
    Es war das Zimmer gleich neben ihrem eigenen und hatte die gleiche Tapete: große Pfaue, die keck über die Schultern auf kleine Schüsseln blickten, die mit exotischen Früchten und Trauben gefüllt waren.
    »Perfekt! Genau wie ich es in Erinnerung hatte!«, rief Patience und klatschte entzückt in die Hände.
    »Eigentlich soll das Abendessen um acht Uhr stattfinden. Aber es ist schon halb sieben. Sollen wir zumindest acht sagen?«
    »Ja, sagen wir acht.«
    »Und wann soll ich Myrtle zu dir schicken? Wann möchtest du, dass sie kommt?«
    »Ist sie schnell?«
    »Wie der Blitz.«
    »Und gut mit Haaren?«
    »Ein Genie.«
    »Ich möchte sie nicht völlig vereinnahmen.«
    »Unsinn.«
    »Um sieben?«
    »Ist gut.«
    »Bis dann!«, strahlte Patience und schloss ihre Tür. Ernest starrte die Decke an.
    »Du bist ein kleines Stückchen weiter untergebracht«, sagte Emerald mit dem Gefühl, ihn bei irgendetwas zu unterbrechen.
    Während sie zu seinem Zimmer gingen, machte er sich an seinem Ärmel zu schaffen, völlig darauf konzentriert, die beiden Enden der Manschette zusammenzufügen.
    Emerald öffnete die Tür zum Zimmer mit der gestreiften Tapete. Unerklärlicherweise machte es sie verlegen, mit diesem veränderten, unerwarteten Ernest, der so viel größer war als sie und sich zu einem richtigen Mann gemausert hatte, auf der Schwelle zu stehen. Jahrelang hatte sie nicht an ihn gedacht, von einem obligatorischen »Wie geht es Ernest?« in ihren Briefen einmal abgesehen. Doch hätte jemand den Namen Ernest Sutton erwähnt, wären vor ihrem inneren Auge sofort leuchtende Bilder, wie Diapositive, aufgetaucht. Sie selbst und ein rothaariger Junge, damit beschäftigt, unter dem Mikroskop Grashüpfer, Würmer, Schimmel zu begutachten; Spiele mit Patience und Clovis; Verstecken, Blindekuh. Wie sie ein Tuch straff und fest über Ernests Augenklappe banden und juchzend um ihn herumrannten. Sterne war damals ein Haus der Kinder gewesen, mit problemlosen, vorhersehbaren, zweiarmigen Eltern. Jetzt waren aus den vier Kindern von damals Erwachsene geworden: Erwachsene mit ordentlich geschnürten Schuhen, hochgesteckten Haaren, zugeknöpften Westen. Erwachsene, die gefällig miteinander plauderten und Sätze wie »Ach wirklich, wie interessant!« von sich gaben. Und ihr Vater war tot. – Ihre jüngeren Ichs waren durch ihre Reserviertheit und seine überraschende Männlichkeit ersetzt worden.
    Als sie auf der Schwelle des Schlafzimmers stand, kam Emerald der Gedanke, dass der Medizinstudent Ernest Sutton mit großer Wahrscheinlichkeit bereits – sie wusste nicht genau, wie sie es ausdrücken sollte, nicht einmal sich selbst gegenüber – nackte Frauenkörper gesehen hatte. Sicherlich hatte es sich um Leichen gehandelt, aber trotzdem. Ebenso sicherlich waren sie unbekleidet gewesen. Der Gedanke war beunruhigend, die Mahagonischnörkel des Bettes schienen sie lüstern anzugrinsen.
    Ernest selbst nahm das Schlafzimmer augenscheinlich nicht einmal wahr, genauso wenig wie die Tatsache, dass er, nur durch ein paar Zentimeter dünne Luft und ein paar Schichten Kleiderstoff getrennt, neben Emerald Torringtons unbekleidetem Körper stand. Er betrat einfach das Zimmer und machte ohne ein weiteres Wort die Tür vor ihrer Nase zu.
    Als sie ihn nicht mehr vor Augen hatte, löste sich der Bann, und sie war mit einem Ruck wieder sie selbst.
    »Ein komischer Kauz«, sagte sie zu sich selbst. Und

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