Der ungeladene Gast
»Haben sie gesagt, wie lange es noch dauern wird?« Und noch jemand anderes flüsterte drängend: »Wir müssen wirklich weiter«, worauf mehrere andere zustimmend nickten und brummten.
»Ich werde sofort anrufen und Ihnen dann Bescheid geben. Ich entschuldige mich für – für die Verzögerung.« Sie kam sich vor wie eine Eisenbahnangestellte, als sie das sagte, wusste aber nicht, was sie sonst hätte sagen können. Sie machte einen Schritt zurück und zog die Tür mit fester Hand hinter sich zu.
Ohne zu hart urteilen zu wollen – diese Leute waren irgendwie unheimlich! Emerald hoffte nur, dass sie sich nicht aus dem Frühstückszimmer herauswagen würden.
Sie erreichte die Halle, wo ihre feige Mutter wartend auf der Treppe stand.
»Ich gehe jetzt auf mein Zimmer.«
»Und was ist mit den Suttons?«, zischte Emerald und deutete auf die Tür der Bibliothek.
»Ich weiß nicht, Emerald. Kümmere du dich um sie.«
Emerald war eine intuitive junge Frau. Sie durchschaute die ausgefeilten Manöver ihrer Mutter und gab sich alle Mühe, ihre eigene Verzweiflung darüber, von ihr im Stich gelassen zu werden, beiseitezuwischen und allen Widrigkeiten zum Trotz freundlich zu bleiben. »Es ist gut, Mutter«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle.«
»Was meinst du denn damit?«, antwortete Charlotte gereizt.
»All diese Leute! Ehrlich, Mutter, die Suttons stören sich nicht daran.«
Charlotte blieb stehen, die Hand noch auf dem Geländer. »Emerald«, sagte sie eisig. »Wenn du denkst, es interessiert mich auch nur einen Deut, was die unsägliche Patience Sutton oder ihre Brillenschlange von Bruder denken …«
»Pst …« Emerald sah schuldbewusst zur geschlossenen Tür der Bibliothek hinüber. »Komm mit – nach oben.«
Sie huschten die Treppe hinauf, und Emerald führte ihre Mutter entschlossen bis zur Sicherheit ihrer Schlafzimmertür, wo sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Ich denke schon, dass es dich einen Deut interessiert. Ich denke, es interessiert dich mehr als nur einen Deut. Camilla Sutton war Teil deiner wundervoll konventionellen Kindheit, wie du selbst immer so liebevoll gesagt hast …« Sie unterbrach sich. »Wieso ist sie eigentlich nicht mitgekommen?«
»Ach, sie hat ein verlogenes Telegramm geschickt. Angeblich hat sie eine Erkältung. Aber das glaube ich keine Minute!«
»Das hättest du mir ruhig sagen können. Übrigens sieht Ernest ihr überhaupt nicht ähnlich. Aber wieso sollte sie lügen?«
Charlotte hatte ihr Taschentuch neuerlich zusammengeknüllt und zupfte nun zerstreut daran herum wie ein Kind, das eigentlich nur wegwill und schmollt, weil es gezwungen ist, Rede und Antwort zu stehen.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht verabscheut sie mich. Weil ich kein Geld habe. Weil ich Edward geheiratet habe.«
Emerald wand sich unter dem Gewicht dieser Eingeständnisse. Sie musste sich um die Suttons kümmern, sie musste die Eisenbahn anrufen – aber nein, schon wieder war sie gezwungen, ihrer kraftlosen, schwächelnden, sonnenhungrigen Kletterpflanze von Mutter eine Stütze zu sein. Sie atmete tief ein, um Kraft zu schöpfen.
»Ma, Edward ist ein ausgezeichneter Anwalt. Und ich würde meinen, dass er ein durchaus akzeptabler Ehemann ist.« Jetzt war es schon so weit gekommen, dass sie ihren Stiefvater verteidigte! Seine Abwesenheit während dieser Krise schien dem Bild, das sie von ihm hatte, unendlich gutzutun.
»Ja, aber – na ja, du weißt schon – sein Arm – und niemand kennt ihn. Und Camilla gehört zu den Leuten, die Bridge spielen und Besuchskärtchen hinterlassen und in den vornehmsten Kreisen verkehren. Während ich – nun ja, während ich das alles eben nicht tue.«
»Aber das war doch nie anders, Mutter. Ich bin überrascht, dass es dir plötzlich etwas auszumachen scheint.«
»Es macht mir etwas aus, dass sie mich fallen lässt und dazu auch noch ihre lästigen kleinen Spione ausschickt, um zu erkunden, was wir so treiben, und dann haben wir ausgerechnet diese – diese Leute am Hals. Es ist demütigend!«
»Diese lästigen kleinen Spione, wie du sie nennst«, brauste Emerald auf, »sind zufälligerweise meine Freundin Patience, die vielleicht ein bisschen konventionell sein mag, aber auch absolut lieb ist, und ihr Bruder, der …« Sie suchte nach Worten. »Der ebenfalls ein absolut feiner Mensch ist.«
Charlotte gab sich wieder vage.
»Wie du meinst, Emerald. Dann sind sie eben absolut hinreißend. Ich lege mich jetzt trotzdem ein Weilchen hin und überlege,
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