Der ungeladene Gast
wieder ein, wer sie war – die Hausherrin! »Aber das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich überlasse das alles Ihnen, Mrs Trieves. Wenn wir mit der Eisenbahn gesprochen haben, werden wir eine klarere Vorstellung davon haben, wie sehr und vor allem für wie lange wir derart beeinträchtigt sein werden. Einverstanden?«
»Tee?«, sagte Florence mit müder Stimme, denn für sie war Tee die arbeitsintensivste und ineffektivste Form der Nahrungsaufnahme überhaupt. Man musste Wasser aufsetzen, die Kanne anwärmen, den Tee ziehen lassen. Porzellan, Milch, Zucker, alles musste hin und her geschleppt werden, und wofür? Für ein dünnes Getränk, das sich auf seinem Weg durch den Körper praktisch überhaupt nicht veränderte. Sie konnte sich daran erinnern, Tee einst geliebt zu haben, inzwischen aber bedeutete er ihr nicht mehr als Wasser. »Ja, wahrscheinlich«, sagte sie.
»Ja, einverstanden, Mutter.«
»Und wir müssen alle ein wachsames Auge auf die Wertsachen und den Zierrat haben. Ich möchte auf keinen Fall, dass wir mit diesem jämmerlichen Haufen gleich auch dem halben Silber Auf Wiedersehen sagen. Also gebt das bitte an die Gäste weiter. Außerdem müssen wir versuchen, ein Mindestmaß an Würde zu bewahren. Wenn doch nur Edward hier wäre!«
Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hätte auch Emerald es fast geschätzt, wenn ihr Stiefvater anwesend gewesen wäre – zumindest in der Vorstellung.
Die drei Frauen verließen die Vorratskammer, um zu versuchen, den Anschein von Normalität zu wahren. Charlotte hüllte sich in ihre Stola, Emerald lupfte ihre alte Freundin, das rostrote Nachmittagskleid, vom fettigen Küchenboden, und Florence raschelte in ihrem düsteren Schwarz hinter ihnen her, um in der Küche das Wasser für den von ihr so ungeliebten Tee aufzusetzen.
Charlotte erschauderte, als sie und Emerald an der fest geschlossenen Tür des Frühstückszimmers vorbeikamen.
»Wir müssen auf der Stelle die Eisenbahn anrufen«, sagte sie. »Oh, aber zuallererst … die Suttons!«
Sie sprach den Namen in einem derart abfälligen Ton aus, dass Emerald sich gezwungen sah zu bemerken: »Du könntest ruhig etwas netter zu Patience sein, Mutter. Oder meinst du, sie merkt nicht, wie sehr du sie verabscheust?«
»Sie verabscheuen? Wie kommst du denn darauf? Ich hege die allergrößte Bewunderung für moderne Akademikerinnen. Zwar bin ich mir nicht ganz sicher, ob die kleine Patience meinem vorgefassten Bild entspricht, aber möglicherweise ist ihr Verstand so scharf wie ein Rasiermesser – falls sie je aufhören sollte, so affektiert zu tun.«
»Ach, Mutter!«
Sie wurden von lautem Gelächter hinter der geschlossenen Tür unterbrochen, das die beiden Frauen wie aufgeschreckte Ponys einen Satz zur Seite machen ließ.
»Was um alles in der Welt …« Charlotte war blass geworden.
»Wagen wir es, nachzusehen?«
»Wahrscheinlich werden sie jetzt, da sie sich aufgewärmt und erkannt haben, wie glücklich sie sich schätzen können, absolut ungebärdig und überhaupt nicht mehr zu handhaben sein.«
»Musst du immer so abfällig über alle reden? Diese Menschen haben ein schreckliches Erlebnis hinter sich«, fuhr Emerald auf und öffnete, sich von ihrer Mutter distanzierend, trotzig und mitfühlend die Tür zum Frühstückszimmer.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, erkundigte sie sich freundlich, aber wer immer eben gelacht hatte, war jetzt mit Stummheit geschlagen.
Sie wichen sogar vor ihr zurück, als hätte sie die Absicht, sie zu tadeln. Es war schwer vorstellbar, dass das ungebärdige Gelächter aus dieser stillen und starrenden Masse gekommen sein sollte. Sie schienen kaum der Sprache fähig.
Emerald blickte hilfesuchend über ihre Schulter, aber wie nicht anders zu erwarten, war Charlotte verschwunden; Emerald sah nur noch ihren verräterischen Rücken, der soeben um die Ecke huschte.
Sie blickte in die ihr zugewandten Gesichter. Vorhin, auf der Auffahrt, waren sie ihr weniger zahlreich vorgekommen. Da waren es vielleicht zehn gewesen; jetzt schienen es eher zwölf oder vierzehn zu sein – aber sie konnte nicht gleichzeitig zählen und sprechen und wollte auf keinen Fall unhöflich erscheinen.
»Myrtle wird Ihnen gleich Tee bringen«, verkündete sie.
»Vielen Dank«, sagte ein Mann, der mit ausgestreckten Händen vor dem Kamin stand. Eine Frau neben ihm, vielleicht seine Frau, sprach als Nächste.
»Haben Sie schon etwas von der Eisenbahn gehört?«, fragte sie, und ein anderer warf ein:
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