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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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warf Charlotte einen Blick zu. Diese privaten Informationen aus dem Mund eines Fremden? Welche Wahrheit steckte dahinter? Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken.
    »Das mit der Kindheit entspricht durchaus der Wahrheit«, fuhr er fort, »zumindest der Wahrheit, die sie mir erzählt hat, aber die sorglosen Tage waren nicht wirklich sorglos, nicht wahr, Mrs Trieves? Florence?«
    Florence hielt den Blick in die Ferne gerichtet und antwortete ihm nicht.
    »Ganz und gar nicht sorglos. Das Geld für die Miete musste aufgebracht werden, man musste es sich von Gentlemen leihen – so haben Sie es doch manchmal genannt, nicht wahr? Leihen . Und viele der Gentlemen waren auch nicht wirklich Gentlemen, nicht wahr, Charlotte?«
    »Du zum Beispiel warst keiner«, sagte sie, ohne dass er darauf einging.
    »Künstler – diese grüblerischen, redenden, trinkenden Künstler. Ist Prostitution ehrbarer, wenn man sie unter Intellektuellen betreibt? Ich würde sagen – nein.«
    »Wir waren Modelle«, platzte es aus Florence heraus.
    »Still!«, rief Charlotte, die weitere Provokationen seinerseits fürchtete, aber es war zu spät.
    »Ah, Modelle! Musen. Göttinnen, nicht wahr? Du zumindest, Charlotte, eine Göttin für die Männer, die du verführt hast. Wie sie sich mühten, deinen himmlischen Zauber einzufangen – bevor sie mit dir ins Bett gingen.«
    Er war zu vulgär. Es war unerträglich. John Buchanan, bis zu diesem Augenblick stumm, überwältigt von grausamer Leidenschaft während des Spiels und dann, nach Patiences Zusammenbruch, von Verwirrung und Schock, sprang auf.
    »Genug!«, rief er. »Verlassen Sie dieses Haus, auf der Stelle! Wie können Sie es wagen!«
    Traversham-Beechers war so unbeeindruckt von diesem Ausbruch, dass Johns Entschlossenheit in sich zusammensackte wie ein Ballon, aus dem die Luft herausgelassen wird. Er setzte sich wieder.
    »Ich werde dieses Haus nicht verlassen. Ich bin hier, um diese Sache zu Ende zu bringen, und das werde ich auch.« Er sprach immer hastiger, wie ein Ankläger vor Gericht. »Ganz kurz also: Charlotte Thompson, mittellos in Bloomsbury im Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – als jene Gegend noch nicht annähernd so empfehlenswert war wie heute, und das ist offen gestanden«, er lachte, »immer noch nicht sonderlich empfehlenswert –, war gezwungen, und ich benutze das Wort ironisch, gezwungen, auf ihren einzigen Aktivposten zurückzugreifen: ihre Schönheit. Tat sie es auf ehrbare Weise, so wie andere Frauen? Versuchte sie, einen Ehemann zu finden? Nein, das tat sie nicht. Sie legte ihre Kleider gegen Bezahlung ab und ließ sich in einer ganzen Reihe zweitklassiger Gemälde verewigen, hingeschmiert von liebeskranken oder zynischen Narren. (Ich selbst besitze eins oder zwei davon; und frage mich, ob Sie raten können, zu welcher Kategorie ich gehöre?) Als ich sie kennenlernte, ging sie – und Sie, Florence! Wir dürfen Sie nicht vergessen – gegen Geld mit Männern ins Bett. Eine Mätresse. Eine Muse. Ein Modell. Aber nur im seltensten Fall – nur im seltensten Fall, was, Lottie? – auf dem Straßenstrich zu finden.«
    Er war so tief gesunken, wie er nur sinken konnte – beziehungsweise sie, und er hatte davon berichtet. Keiner im Raum konnte den anderen ins Gesicht sehen. Als Charlotte schließlich aufstand, wurde sie dabei von niemandem beobachtet, da alle Köpfe gesenkt waren.
    Die Stimme, mit der sie ihm antwortete, war dumpf, und irgendetwas in ihrem Ton machte jedem Zweifel ein Ende, jeder verzweifelten Hoffnung, die ihre Kinder vielleicht bezüglich der Wahrhaftigkeit seiner Anschuldigungen gehabt hatten. Es war die Stimme einer Frau, die all das erlebt hatte, wovon er gesprochen hatte, und mehr. Es war die Stimme von Charlotte Thompson, wohnhaft in Bloomsbury, die mit dem aller Würde baren Mut der Erniedrigten sprach.
    »Stimmt, Charlie, nur im seltensten Fall«, sagte sie und verließ das Zimmer.
    Einer nach dem anderen standen sie auf. Der Raum leerte sich. Bei jedem Öffnen der Tür wurde das Singen lauter. Fetzen ausgelassener Gassenhauer begleiteten die Gäste bei ihrem Abgang vom verwüsteten Tisch. Verhöhnt von den munteren Klängen von »K-K-K-Katy«, zogen alle sich zurück. Ernest, den Arm um seine Schwester gelegt; Florence in ihre verwüstete, geplünderte Küche; Clovis – der nicht einmal seiner Schwester, geschweige denn den anderen, in die Augen sehen konnte – in irgendein Versteck in irgendeinem verborgenen Winkel des

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