Der Ungnädige
Das ging so über eine Schulter und hatte ein eingearbeitetes Mieder. Der Stoff war ganz dünn, fast durchsichtig, und der Rock hatte Falten. Dazu hatte sie goldene Riemchensandalen an und eine roséfarbene Maske. In den Haaren hatte sie kleine Blüten und so Glitzerzeug. «
» Wow, Sie wissen ja genau Bescheid. «
» Mode interessiert mich halt « , sagte sie leise. » Cheyenne hat mir alles vorgeführt, bevor sie losgefahren ist. Sie wollte richtig toll aussehen. «
» Ist sie denn in diesem Aufzug mit dem Zug gefahren? « , fragte ihre Mutter ungläubig.
» Nein, sie wollte sich bei McDonald’s umziehen und hatte alles in einem Plastikbeutel. «
» Und was hat sie mit den Sachen gemacht, die sie im Zug anhatte? « , fragte ich.
» Die wollte sie verstecken. Aber eigentlich war es ihr egal, was damit passierte. Sie hätte auch kein Problem damit gehabt, am nächsten Tag in ihrem Kleid zurückzukommen. Cheyenne ist gerne aufgefallen. «
Offenbar ein bisschen zu gerne, dachte ich. » Gibt es noch Sachen, die ich vielleicht wissen sollte? « Kopfschütteln. » Haben Sie Ihrerseits noch irgendwelche Fragen an mich? «
» Was ist denn mit ihr passiert? Wie ist sie gestorben? « , fragte sie mit weit aufgerissenen Augen und so schwacher Stimme, dass ich mich ein bisschen vorbeugen musste, um sie überhaupt zu verstehen. Aber diese Frage war so inständig, so dringlich, als hätte sie absoluten Vorrang.
» Das wissen wir noch nicht genau. Aber wir werden es herausfinden. «
» Hat jemand ihr wehgetan? Bevor sie gestorben ist? «
Es war klar, dass Mrs. Flynn jetzt ein Nein von mir hören wollte. Ich versuchte es mit: » Das ist im Moment schwer zu sagen, Lily. Aber als ich sie heute Morgen gesehen habe, sah sie aus, als schliefe sie. «
» Ehrlich? «
Ich nickte. » Hilft Ihnen das? «
Sie rutschte nervös herum.
» Darf ich Sie noch etwas fragen? « Nicken. » Sie und Cheyenne waren sehr verschieden. Wie kam es eigentlich, dass Sie befreundet waren? «
» Sie war so lustig « , flüsterte sie. » Mit ihr gab’s immer was zu lachen. Bei ihr bin ich mir nie blöd vorgekommen. Und sie hat sich für mich eingesetzt, als ein Mädchen aus unserem Jahrgang mich gemobbt hat. «
» Wie hat sie das denn gemacht? «
» Sie hat gesagt, ihr Vater würde dafür sorgen, dass ihr Haus abgefackelt wird. Und das hat sie echt ernst gemeint. In der Nacht darauf ist bei denen im Garten der Schuppen abgebrannt. « Ein schwaches Lächeln zuckte um ihren Mund. » Danach hatte ich jedenfalls keinen Stress mehr. «
Die Züge von Hertfordshire nach London hatten allesamt Verspätung, weil sich am Bahnhof Liverpool Street eine » Person auf den Gleisen « befand. Das stieß bei den Mitreisenden allerdings auf wenig Mitgefühl; es war ja wohl die Höhe, dass jemand mit seinem Selbstmord die Abendgestaltung anderer Leute behinderte. Todmüde schleppte ich mich nach Hause und dachte daran, dass Rob gerade von der schönen Rosalba Osbourne um den Finger gewickelt wurde, während ich mich durch den Dschungel des öffentlichen Nahverkehrs kämpfte. Das verdarb mir derart die Laune, dass die Haustür fast aus den Angeln flog, als ich sie zuschlug.
» Immer hübsch mit der Ruhe. « Walter stand schon auf der Treppe.
» Tut mir leid. Schlechten Tag erwischt. « Ich kramte nach meinem Schlüssel und musste erst ein Weilchen suchen, bis ich den richtigen gefunden hatte.
» Ich wollte sowieso mal mit Ihnen reden. « Keuchend kam er die Treppe weiter herunter.
» Ach so? « Ich drehte mich mit dem Rücken zu meiner Wohnungstür. Auf gar keinen Fall würde ich ihn hereinbitten.
» Also, das ist ein bisschen heikel. « Sein Blick wanderte über mein Gesicht und dann hinauf zum Stuck an der Decke. Der Geruch von Gras umgab ihn wie ein Schleier. Wahrscheinlich wurde man schon high, wenn man nur in seine Nähe kam. » Ich hätte das schon viel eher ansprechen sollen. «
Ich ahnte schon, was jetzt kommen würde. » Was denn? «
» Also, ich wusste ja nicht, was für einen Beruf Sie haben, als ich Ihnen die Wohnung vermietet habe. «
» Ich hätte nicht gedacht, dass das ein Problem sein könnte. «
» Ist es ja auch nicht. Ich bin schließlich ein gesetzestreuer Mensch. «
» Das bezweifle ich nicht « , log ich.
» Ich will nur keinen Ärger haben. Meine Mieter sind für mich so was wie Freunde. « Er deutete mit dem Daumen auf die Tür gegenüber. » Chris wohnt hier schon seit Jahren. Und Brody auch. «
Und ich hatte nicht vor,
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