Der Ungnädige
mehr auf ihr Äußeres geachtet. Wir waren ganz sicher, dass sie jemanden kennen gelernt hatte und es uns nur nicht sagen wollte, weil sie ihn aus dem Internet kannte und dachte, dass wir das nicht gut fänden. Oder vielleicht hatte sie auch Angst, uns was davon zu erzählen, falls es wieder schiefging und sie sich dann schämen würde. «
» Oder weil er ihr eingeredet hat, es niemandem zu erzählen. « Ich musste an diese eine Nachricht denken, durch die wir überhaupt von Kyle wussten. Darin hatte er auf Geheimhaltung bestanden.
» Sie hätte alles getan, was jemand von ihr verlangt « , sagte Meg finster. » Sie hatte gar keinen richtigen Willen, sondern wollte einfach nur geliebt werden. Und das hätte sie auch absolut verdient gehabt. Wir haben uns so für sie gefreut, als sie an diesem Abend losgezogen ist. Sie hatte ein irre schönes Kleid mit Pfauenmuster an und Absatzschuhe. Darin sah sie so toll aus. Sie hatte ein hübsches Gesicht. Ich weiß, das sagt man oft so von Mädchen, die ein bisschen üppiger sind. Aber bei ihr stimmte das wirklich. «
» Ich habe noch gar kein Foto von ihr gesehen. « Wenn DS Rai endlich mal den Hintern hochkriegen und mir die Akte überstellen würde, bestand eine gewisse Aussicht darauf.
» Wenn Sie mir Ihre Mailadresse geben, kann ich Ihnen ein paar Bilder schicken. «
Ich bedankte mich, überrascht von diesem Angebot.
» Sie sind die Erste, die von Patricia wie von einem Menschen redet. « Megs Stimme klang plötzlich heiser, und ich nahm an, dass sie mit den Tränen kämpfte. » Wenn Sie sie finden und es geht ihr gut, können Sie ihr dann sagen, dass sie mir fehlt und dass ich es kaum erwarten kann, sie wiederzusehen? «
» Das mache ich « , versprach ich ihr. Dann legte ich auf, und schon stand Liv wieder neben mir.
» Erzähl mir alles, was sie gesagt hat. «
Ich fuhr mir durch die Haare, obwohl nach dem Gespräch mit Meg Spencer frisurtechnisch sowieso alles zu spät war. » Weißt du, je mehr ich über sie erfahre, umso größere Sorgen mache ich mir um sie. Und umso wütender bin ich auf DS Rai, dass er nichts unternommen hat. «
Ich kontrollierte mein Mail-Postfach und sah, dass Meg Wort gehalten und mir eine Nachricht mit drei Anhängen geschickt hatte. » Willst du ein Bild von Patricia sehen? «
» Aber ja. « Liv kam näher und sah zu, wie die Anhänge heruntergeladen und geöffnet wurden.
» Nach den Dateinamen zu urteilen wurden die ersten beiden Bilder bei der Taufe von Megs Tochter aufgenommen. «
» Dann ist das hier wahrscheinlich Meg. «
Ich nickte und betrachtete die schmale junge Frau, die mit ernster Miene ein Baby im Arm hielt, das aussah wie eine Miniausgabe ihrer selbst und auf kuriose Weise besorgt wirkte. » Nach dem Telefonat hatte ich sie mir ganz anders vorgestellt. Sie klang irgendwie…kräftiger. «
» Geht mir auch ständig so. Wenn ich mit Leuten telefoniere, hab ich unwillkürlich ein Bild vor Augen, mit dem ich aber jedes Mal komplett danebenliege. « Sie zeigte auf das Foto und sagte: » Und das da dürfte Patricia sein. «
Auf dem ersten Bild hielt sie sich im Hintergrund und wurde von Megs Ehemann halb verdeckt. Sie war schwarz gekleidet, und das einzig festliche Accessoire an ihr war eine riesige rote Blüte, die sie sich angesteckt hatte. Ihre Haltung war leicht gebeugt, als wollte sie weniger Platz einnehmen und am liebsten unsichtbar sein. Sie war zwar füllig, aber längst nicht so sehr, wie sie offenbar glaubte.
Das zweite Foto war ungestellt und stammte vom selben Tag. Es war eine Nahaufnahme. Patricia schaute mit zweifelndem Blick in die Kamera, als hätte sie in dem Augenblick bemerkt, dass sie fotografiert wird. Ihre Haut war pfirsichweich und ihre Augen von einem schönen Schokoladenbraun. Obwohl sie wirklich so hübsch war, wie Meg gesagt hatte, hatte ich den Eindruck, dass sie todunglücklich war, sich furchtbar unwohl in ihrer Haut fühlte und befangen angesichts der vielen Menschen um sie herum.
Das dritte Bild war ebenfalls ein Schnappschuss, auf dem Patricia sich gerade am Schreibtisch streckte. Ihr Mund war geöffnet, und ich vermutete, dass sie gerade sprach, als jemand auf den Auslöser gedrückt hatte. Auf diesem Foto war sie ungeschminkt und trug eine dicke Brille mit schwarz-rotem Rand. Ihre Haare hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, was ihr rundes Gesicht mit dem Doppelkinn darunter besonders betonte. In der dazugehörigen Mail hatte Meg geschrieben, dass sich Patricia nur
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