Der Ungnädige
äußerst ungern fotografieren ließ und sie deshalb nur diese drei Bilder finden konnte.
» Arme Patricia. Ich weiß nicht, ob ich das nur jetzt im Nachhinein denke, aber für mich sieht sie wie ein ideales Opfer aus. «
» Vielleicht hat das ihr Entführer ja auch gemerkt « , sagte Liv nüchtern. » Als er im Internet unterwegs war, hat sie ihm ja förmlich entgegengeschrien, dass er sie in seinen Einkaufskorb packen soll. Echt erschütternd. «
» Aber es ist nicht nur das. Ich werd das Gefühl einfach nicht los, dass Cheyenne noch leben könnte, wenn irgendjemand früher auf Patricias Eltern gehört hätte und ein bisschen intensiver nachgeforscht hätte. «
Ich starrte auf das zweite Bild, in die Rehaugen der Vermissten, und fragte mich, wem sie wohl vertraut hatte und was ihr zugestoßen war. Sie wirkte alles andere als bösartig auf mich, und ich nahm auch kein Potenzial dazu bei ihr wahr.
» Na komm « , stieß Liv mich an. » Du hast gesagt, du hättest was anderes als Tee nötig. Wie wär’s jetzt damit? Krieg erst mal den Kopf frei, und dann geht’s morgen weiter. «
Ich sah mich im Büro um und musste feststellen, dass es sich merklich geleert hatte, während ich am Telefon gehangen hatte. Selbst Godley war schon gegangen. Es war später, als ich dachte– fast sechs–, und die Energie vom frühen Morgen, als der Autopsiebericht reinkam, war längst verflogen. Inzwischen schien es nicht mehr so dringlich, John Skinners komplizierte Geschäftsverbindungen zu entflechten, und ich konnte verstehen, warum Liv so versessen darauf war, etwas über den Fall Patricia mitzubekommen.
» Eigentlich kann ich nicht « , sagte ich zögernd. » Ich hab schon noch ein paar Sachen zu erledigen. «
Liv neigte den Kopf, als würde sie darüber nachdenken, ob sie jetzt beleidigt war, und lächelte dann. » Okay. Kein Problem. Ich dachte nur, dass du vielleicht eine Pause gebrauchen könntest. «
» Bräuchte ich auch « , gab ich zu. Ich hatte Kopfschmerzen, und meine dämliche Kostümjacke rutschte dauernd hoch. Genervt zog ich sie glatt.
» Sag einfach Bescheid, falls du es dir anders überlegst. « Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch, und ich sah zu, wie sie ihren Rechner ausschaltete. Der Gedanke war durchaus verlockend. Alles, was ich auf dem Tisch hatte, konnte gut und gern bis morgen warten. Und ehe ich weitere Schritte unternahm, musste ich Patricias Akte von DS Rai gelesen haben. Die Wohnung in Stoke Newington war wenige Monate nach ihrem Verschwinden geräumt und neu vermietet worden. Einen Überblick darüber, was sie zurückgelassen hatte, konnte ich mir also nur anhand der Bilder verschaffen, die DS Rai zufolge in der Akte waren. Ihr Verschwinden lag nun schon so lange zurück, dass sämtliche Spuren eiskalt waren. Etwaige Zeugen daraufhin zu befragen, wo sie vor anderthalb Jahren gewesen waren, dürfte nicht so einfach werden. Mir stand also einiges bevor.
» Ich hab mich überredet. «
Sie war gerade dabei, ihre Jacke zuzuknöpfen, und schaute auf. » Wirklich? Ausgezeichnet. Wo wollen wir hin? «
» Ich geh fast nie in die Kneipe, ich weiß nur, dass die lieben Kollegen immer im Silver Hook vor Anker gehen . Der Laden ist zwar ein bisschen runtergekommen, aber zumindest in der Nähe. Und wahrscheinlich ziemlich leer. «
» Gut, versuchen wir’s dort. «
Das war zwar naheliegend, stellte sich aber schon beim Betreten als Fehler heraus. Denn der Erste, den ich dort sah, war Peter Belcott, der sich zusammen mit Chris Pettifer, Harry Maitland und Art Mortimer an der Bar festhielt. Wir waren also nicht die Einzigen, die den Tag auf diese Weise beenden wollten, nur dass die Herren schon etliche Runden Vorsprung hatten. Da diese Jungs nicht gerade zu den Sympathieträgern im Team gehörten, bedachte ich sie mit meinem unverbindlichsten Lächeln und ging an ihnen vorbei ans andere Ende der Kneipe, gefolgt von Liv. In einer wenig einsehbaren Ecke ließen wir uns nieder.
» Was trinkst du? «
Sie zog die Nase kraus. » Weißwein? Oder ist das zu viel des Klischees? «
» Nee, klingt doch prima. ’nen trockenen? «
» Sauvignon blanc, wenn sie den haben. «
» Sollten sie eigentlich « , antwortete ich mit leichtem Zweifel. » Ich hol am besten gleich eine Flasche. « Das hatte zudem den Vorteil, dass wir nicht so oft an die Bar mussten. Ich sammelte mich und ging los, um zu bestellen.
Offensichtlich angestachelt von den anderen, fuhr Belcott herum. » Kerrigan. Wollen Sie und die
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