Der Unsichtbare Feind
die Tür hinter sich ins Schloss und kam zu ihm. »Wir gehen auf keinen Fall zu dicht an irgendeinen Rand.«
Chet grinste sie an. Sie führten jedes Jahr dasselbe Gespräch, selbst als seine Mutter noch lebte, und für gewöhnlich gewann er unter der Bedingung, dass sein Vater einen schützenden Arm um ihn legte.
Martha machte sich Sorgen, dass der Mann nicht mehr vor Beginn des Schauspiels zurückkehren würde. Er hatte diesbezüglich nicht allzu hoffnungsvoll geklungen, als er am Nachmittag fortgegangen war. Nicht dass sie auch nur eine Minute den Unsinn geglaubt hätte, den er Chet und ihr erzählt hatte, dass er bis in die Nacht hinein in Dr. Sullivans Labor arbeiten müsse. »Ausgerechnet heute«, hatte sie gemurmelt und war überzeugt, dass die beiden beschlossen hatten, irgendwo ein Hotelzimmer zu mieten. Zu jeder anderen Zeit hätte sie von Herzen zugestimmt, aber nachdem sie die Enttäuschung in Chets Augen gesehen hatte, hatte sie Steele beiseite genommen und gesagt: »Gerade wo Sie langsam wieder mit dem Jungen klarkommen, lassen Sie ihn so im Stich.«
Er hatte nur das Gesicht verzogen und gesagt: »Ich kann es nicht ändern.«
Chet reihte sich in den Strom der Menschen ein, und Martha folgte ihm. Die schwülheiße Luft schien mit Elektrizität aufgeladen zu sein und summte vor Stimmen, Gelächter und Schritten nicht nur der hunderte, die mit ihnen die Straße hinuntergingen, sondern der hunderttausende, die nördlich und südlich von ihnen Block um Block ihren Weg suchten. Über der Stadt lag ein ockerfarbener Dunst, und kein Windhauch bewegte die vielen Sternenbanner, die aus Anlass des vierten Juli von den Balkons hingen oder über den Dächern gehisst worden waren.
Während er sich vor ihr durch die Menge drängte, behielt sie ihn im Blick. Sein wuscheliges schwarzes Haar war zwischen den vielen Köpfen leicht auszumachen. Er ist dieses Jahr viel größer geworden, dachte sie und trottete hinter ihm her. Die Beobachtung machte sie einen Augenblick lang melancholisch – das Gefühl, wie rasch die Jahre vergingen, wie schnell Chet aufwuchs, wie wenig Zeit seiner Kindheit Steele noch blieb, um die Wunden zu heilen, die immer noch Vater und Sohn trennten. Sie versuchte, die Gedanken abzuschütteln, und konzentrierte sich stattdessen auf die ausgelassene Stimmung um sie herum – die Hotdog-Verkäufer, die Luftballons, die Leute, die sich als Clowns verkleidet hatten. Nach kurzer Zeit hatte sie Chet eingeholt, als dieser stehen geblieben war, um einem Jongleur auf Stelzen zuzuschauen. Er war als Uncle Sam verkleidet. Als sie das Vergnügen in den Augen des Jungen bemerkte, entspannte sie sich.
Zehn Minuten später hatten sie das Krankenhaus erreicht und fuhren mit dem Fahrstuhl zum Dach hinauf. Einige der anderen Feiernden in der Kabine, zum größten Teil Ärzte, Schwestern und Krankenpfleger, erkannten ihn.
»Hi, Chet.«
»Junge, bist du groß geworden.«
»Womit füttern Sie ihn, Martha?«
Sobald sich die Tür des Aufzugs öffnete, rannte er zu der Ecke, die ihr Stammplatz war, und lehnte sich über die hüfthohe Begrenzungsmauer, sodass Martha eine Gänsehaut bekam.
Sie stellte sich hinter ihn und legte ihre Hand fest auf seine Schulter, und gemeinsam genossen sie die vertraute Aussicht.
Ein halbes Dutzend Barkassen waren in der Mitte des East River verankert, bestückt mit tausenden von Rohren, aus denen zehntausende von Feuerwerksraketen abgefeuert werden sollten. Unter ihnen schien der Franklin D. Roosevelt Drive bereits auf eine Meile in jeder Richtung bis zum Bersten voller Menschen zu sein, aber weitere strömten die Auffahrtsrampen hinauf. Die Kaianlagen am Ufer des East River brodelten vor Menschen, farbenfroh verkleidet in kurzen Hosen und T-Shirts, zum Teil auch in Badekleidung, die ein fröhlich tanzendes, farbiges Mosaik bildeten, während von oben Calypsomusik aus den Lautsprechern die schwungvollen Bewegungen mit einem Chor aus »Hot! Hot! Hot!«-Rufen choreografierte.
Chet drehte den Kopf und sagte etwas zu Martha, aber sie konnte es nicht verstehen. Das dröhnende Knattern eines riesigen Hubschraubers, der über sie hinwegrauschte, übertönte seine Stimme.
»Warum, Steve?«, fragte sie.
Einige Sekunden lang sagte er nichts, und der Raum füllte sich mit einem solch beklemmenden und eisigen Schweigen, dass sie sich körperlich bedrängt fühlte. Dann seufzte er, lang und tief, um ihr zu zeigen, wie sehr er ihretwegen außer sich war. »Wenn ich daran denke, dass ich
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