Der Unsichtbare Feind
persönlich vorspielen konnte. Eine Woche später erhielt sie ein Telegramm, indem ihr mitgeteilt wurde, dass sie sie unter der Bedingung annehmen würden, dass sie gesund genug sei, um am Unterricht teilzunehmen.
Der Stolz, den er in diesem Moment in ihren erschöpften Augen aufleuchten sah, schien ebenso dem Triumph ihres Geistes über den Krebs zu gelten, der ihren Körper zerstörte, als auch ihrem musikalischen Sieg. Als er ihr zu sagen versuchte, wie sehr er sie liebte und dass er ihre Courage bewunderte, lächelte sie.
»Ich bin auch stolz auf mich, und das macht mir Lust auf Sex. Komm her«, sagte sie und zog ihn an sich. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie sich liebten.
An dem Tag, an dem sie starb, schloss er den Deckel der Klaviatur ab. Er wusste, dass sie das nicht gewollt hätte, aber schon der Gedanke zu hören, wie jemand anderes das Instrument spielte, in das sie ihre Seele gelegt hatte, war zu viel für ihn.
Eines Abends fragte Martha: »Soll ich es für Sie verkaufen? Es ist morbide, wie Sie die ganze Zeit dasitzen und es anstarren.«
»Nein!«, fuhr er sie an.
Sie rührte das Thema nie wieder an.
Rückkehr zur Alltagsaktivität nannten die Ärzte jenen Teil des detaillierten Planes, der ihm immer mehr Spielraum einräumte. In seinem Fall bedeutete es, dass er immer weniger wusste, was er mit sich anfangen sollte. Das Ergebnis war, dass er sich entschloss, im Krankenhaus vorbeizuschauen, in der Hoffnung, mit Kollegen zu reden und mit dem Personal seiner eigenen Notaufnahme den Krankenhausklatsch auf den neuesten Stand zu bringen. Zunächst empfingen sie ihn mit offenen Armen.
»Gott sei Dank geht es Ihnen wieder gut.«
»Und ob wir Sie vermissen!«
»Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen, bis Sie wieder da sind.«
Als er jedoch anfing, Akten zu lesen, den Ärzten über die Schulter zu sehen und unaufgefordert Ratschläge zu geben, wurde er schnell so lästig, dass die Blicke genervt zur Decke gingen, wenn er nur in Sicht kam.
»Schon wieder hier, Dr. Steele?«
»Wir kommen gut zurecht, wirklich.«
»Entschuldigung, Richard. Ich hab's eilig.«
Schließlich verbrachte er seine Nachmittage damit, stattdessen im Central Park herumzuspazieren und etwas Wärme im bleichen Wintersonnenschein zu tanken. Als ihn das nicht wirklich ablenkte, verlängerte er seine Ausflüge um einen Umweg und schaute auf einen Drink in einer Bar des Plaza Hotels vorbei, den Arm voller Zeitungen. Gegen Ende der Woche betrachteten ihn die Kellner als Stammkunden und kannten sogar seinen Namen.
Zu Hause blieben die Beziehungen zwischen ihm und Chet so gespannt wie immer. Der Junge schien nicht schnell genug aus dem Hause kommen zu können, wenn er morgens zur Schule ging. Als Steele schließlich früh genug aufstand, um mit ihm zu frühstücken, stopfte der Teenager in mürrischem Schweigen eilig den Rest seiner Mahlzeit in sich hinein und machte damit klar, dass er die Abwesenheit seines Vaters bevorzugte. Die Abende erwiesen sich nicht als besser. Der Junge arrangierte es, dass er normalerweise die Hausarbeiten bei einem Freund machte, und wenn Vater und Sohn doch beim Abendessen aufeinander trafen, wurde die Mahlzeit von der Stimmung her eine Wiederholung des Frühstücks. Chet blieb nur so lange am Tisch, wie er brauchte, um Marthas ausgezeichnete Speisen zu verschlingen.
»Ohne seinen Appetit und Ihre Kochkünste würde ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen«, lamentierte Steele eines Abends, nachdem der Junge wie üblich verschwunden war und er und Martha ihr Abendessen beendet hatten.
»Ich werde weiter die Mahlzeiten zubereiten, damit er kommt. Zum Sprechen bringen müssen Sie ihn schon selbst.«
»Und wie mache ich das?«
»Indem Sie mehr von dem sagen, was Sie ihm auf der Intensivstation erzählt haben.«
»Er hat mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Oh ja. Und er wollte auch wissen, ob ich glaube, dass Sie es ernst meinen.«
»Mein Gott!«
»Ich habe ihm gesagt: ›Natürlich hat er es ernst gemeint‹, aber das muss er von Ihnen selbst hören.«
Eine Stunde später hatte Steele sich bereits seinen Drink eingeschenkt und war in den Bergen von Kissen auf dem Sofa versunken, um wie jede Nacht vor sich hin zu brüten, als es an der Tür klingelte.
»Ich gehe schon«, rief Martha fröhlich. »Ich habe vergessen, es Ihnen zu sagen. Ihr Freund Greg Stanton hat heute Nachmittag angerufen und gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn er vorbeikommt. Ich habe gesagt: ›Sicher, kommen Sie
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