Der Unsichtbare Feind
antwortete sie, »und es ist leicht, Ihnen zuzuhören.« Sie legte ihre Hand sanft auf seinen Unterarm, und ihre Augen waren voll Schmerz, als ob sie frisch verwundet wären.
Steele erwiderte ihren Blick und glaubte eine Einladung darin zu lesen, in diesen dunklen Seen zu versinken. Soll ich ihr vorschlagen, auf mein Zimmer zu gehen?, dachte er und konnte kaum atmen. Er streckte die Hand aus, um mit seinen Fingerspitzen die Innenseite ihres Handgelenks zu berühren, als er aus der Entfernung eine Stimme hörte. »Du lieber Gott, kaum lässt man es zu, dass die beiden einzigen Ärzte am Ort sich finden, schon fachsimpeln sie.«
Sandra zog blitzschnell die Hand zurück.
Er drehte sich um und sah Kathleen Sullivan mit strahlendem Lächeln und ausgebreiteten Armen auf ihr gemütliches Plätzchen zusteuern.
»Hi, Dr. Steele, ich weiß, wir haben uns noch nicht kennen gelernt«, begrüßte sie ihn. »Ich bin Kathleen Sullivan. Willkommen in Honolulu!« Sie wandte sich Sandra zu. »Und Sie sind Doktor –?« Sie schielte auf das Namensschild und versuchte die kleinen Buchstaben vor dem ›Dr. med.‹ zu entziffern.
»Arness«, kam ihr die Frau zu Hilfe, lächelte freundlich und hielt ihr dieselbe Hand entgegen, die Sekunden zuvor so einladend die seine berührt hatte.
Sullivan drückte sie herzlich. »Ich hoffe, dass ich Sie nicht bei etwas Wichtigem unterbreche, aber ich muss Ihnen Dr. Steele für eine Minute ›steelen‹ –« Sie begann zu kichern. »Entschuldigung, aber ich mache furchtbar gerne Kalauer!«, erklärte sie und lachte immer noch. »Die billigste Form von Humor, sagt man, aber ich bin nun mal so ein Mädchen, das billige Witze mag. Sobald ich seinen Namen auf der Teilnehmerliste entdeckt hatte, wusste ich, dass ich es versuchen musste. Aber ich muss ihn wirklich kurz ausborgen, Dr. Arness«, fügte sie hinzu. Sie setzte plötzlich eine ernste Miene auf, und ihre Stimme bekam einen entschuldigenden Ton. »Nur für ein paar Minuten, um ihn über das morgige Programm zu informieren –«
»Ja, natürlich, Dr. Sullivan. Er gehört ganz Ihnen. Ich wollte sowieso gerade gehen.« Sie stand auf. »Gute Nacht Ihnen beiden. Ich sehe Sie dann morgen bei den Sitzungen.«
»Gute Nacht, Dr. Arness«, rief Sullivan ihr freundlich nach und nahm dann den Stuhl, auf dem sie bis eben gesessen hatte. »Dr. Steele, ich möchte gerne, dass Sie mit mir auf der Hauptsitzung an der Podiumsdiskussion über die Gefahren der nackten DNA teilnehmen. Wir werden uns auf den Fall von Hühnergrippe konzentrieren, der hier vor achtzehn Monaten die Artenbarriere übersprungen hat, um zu veranschaulichen, welche Art von Ereignissen durch diese Vektoren gefördert werden können …«
Als Steele sich wieder auf den Stuhl ihr gegenüber hinsetzte und ihr zuhörte, beobachtete er, wie Sandra Arness durch die Tür verschwand. Vielen lieben Dank auch, Kathleen Sullivan, dachte er sarkastisch. Du hast es sicherlich geschafft, mich davor zu beschützen, heute Nacht vielleicht meine eigene kleine Begegnung mit ein bisschen DNA zu haben, nackt oder wie auch immer.
»Wie hat diese Hühnergrippe gelernt, Menschen zu töten?«, fragte Dr. Julie Carr am nächsten Morgen. Sie stand neben einer riesigen Leinwand, auf die sie eine schwarzweiße Elektronenmikroskop-Aufnahme eines Grippevirus projiziert hatte.
Niemand antwortete, da jedem in dem voll besetzten Hörsaal klar war, dass die Frage nur rhetorisch war.
»Die Antwort liegt in diesen Borsten«, fuhr sie fort und zeigte mit einem Laserpointer auf die mit Stacheln besetzte Oberfläche des eiförmigen Gebildes. »Sie bestehen aus Glycoproteinen. Einige sind reich an Hämagglutinin, einem Molekül mit drei Enden, das einen bestimmten Rezeptor auf der Zelloberfläche seines Wirtes erkennt und an diesen andockt, wodurch bestimmt wird, welche Arten es befallen kann und welche nicht. Andere enthalten Neuraminidase, ein Molekül, das diese Verbindungen löst und das Virus freisetzt, damit es sich weiterverbreiten kann, falls die Infektion einer bestimmten Zelle aus irgendeinem Grund nicht erfolgreich ist. Zusammen bilden sie auch die molekulare Schablone, gegen die ein Wirt seine Immunreaktion aufbaut. Schon kleine Abweichungen in einer dieser beiden Strukturen ermöglichen es dem Virus, den Antikörpern auszuweichen, die der Körper bei früheren Infektionen gebildet hat, und erhöhen seine Virulenz. Dieses Kerlchen hier sollte nur Stacheln haben, die zu den Molekülen von
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