Der Unsichtbare Feind
sich Martha bestimmt zum sechsten Mal.
»Nein, wirklich nicht, vielen Dank«, beharrte Sullivan, als irgendwo im Haus ein Telefon klingelte. Martha entschuldigte sich und ging zum Telefon.
Wenige Minuten später saßen sie alle drei in Sullivans Wagen und fuhren in aller Eile die kurze Strecke zum Krankenhaus. »Nun stellen Sie sich diesen Mann vor!«, grummelte Martha. »Wird von Hunden angefallen und besteht dann darauf, keinen Wirbel zu machen, und sagt uns, dass wir nicht ins Krankenhaus kommen sollen!«
Sullivan blieb diskret im Wartezimmer der Notfallstation zurück, während die anderen zwei durch mehrere Flügeltüren eilten, auf denen Kein Zutritt stand. Während sie untätig zwischen all den Verwundeten herumging und beobachtete, wie eine Krankentrage nach der anderen von den Sanitätern hereingeschoben wurde, hatte sie dieses Gefühl der Ehrfurcht, dass sie jedes Mal überkam, wenn es sie in eine Notaufnahme verschlug. Die schiere Brutalität der Verletzungen und Krankheiten, die sie dort gesehen hatte, schienen so weit von ihrem eigenen Leben mit den Molekülen entfernt zu sein. Dennoch traf sie die Erkenntnis, dass diese Galerie menschlichen Leides einen ebenso wahren Einblick in Richard Steeles Welt gestattete wie die Fotos in seinem Wohnzimmer. Welch außergewöhnliche Courage muss er haben, dachte sie bewundernd, um Tag für Tag solch extremes Leid behandeln zu können. Und irgendwann musste er die Kraft gehabt haben, durch dieses Blutbad nicht zu sehr zu verhärten, sodass er immer noch diese außergewöhnliche Frau lieben konnte, deren Geist nun von den Wänden seines Wohnzimmers herabsah.
Fünf Minuten später kehrte Martha zurück und tat, als ob sie nie Angst gehabt hätte. »Ach, es ist gar nichts. Wenn man sich vorstellt, dass er uns wegen dieses kleinen Kratzers hierher gezerrt hat.« Sie lächelte einen sehr erleichterten Chet an, nahm ihn in den Arm, sah auf ihre Armbanduhr und fügte hinzu: »Und das auch noch, wo morgen Schule ist. Komm, junger Mann, wir beide gehen jetzt nach Hause.« Sullivan flüsterte sie zu: »Dr. Steele wird hier noch eine ganze Weile herumliegen müssen, hat die Schwester mir erzählt, bis die Nachwirkungen der Betäubung abgeklungen sind.« Sie kicherte. »Das sind offensichtlich seine eigenen Regeln, und es tut ihm ganz gut, wenn er sich daran halten muss.«
»Ich fahre Sie beide nach Hause«, bot Sullivan ihr sofort an.
»Auf keinen Fall. Sie gehen jetzt zu ihm und sagen ihm das, was Sie ihm so dringend erzählen müssen. Er hat sowieso nichts Besseres zu tun, als Ihnen zuzuhören, und außerdem, wenn Sie ihn jetzt nicht erwischen …« Sie beugte sich zu ihr hin, als ob sie ihr gleich ein schreckliches Geheimnis verraten würde. »Er geht nicht ans Telefon, wissen Sie.«
Mit einem Blinzeln und einem Grinsen zum Abschied eilte sie aus der Tür. Chet folgte ihr und rief über die Schulter: »Gute Nacht, Dr. Sullivan.«
»Gute Nacht, Chet«, grüßte sie zurück, und wieder fiel ihr auf, wie sehr die Augen des Jungen denen seiner Mutter glichen. Mit einem Unterschied. Während ihre Augen den Blick eines Menschen hatten, der geliebt wurde und dies wusste, hatte der Junge einen unsicheren Blick, der ahnen ließ, dass er das nicht sicher wusste.
Steele errötete vor Verlegenheit, als sie sein mit Vorhängen abgetrenntes Abteil betrat. Er lag auf einem Krankenbett mit fast senkrecht gestelltem Kopfteil und war in ein zu kleines Krankenhaushemd gezwängt. Sie war sich nicht sicher, hatte aber den Eindruck, dass er seit Honolulu ein paar Pfund verloren hatte. »Dr. Sullivan«, begrüßte er sie mürrisch. »Danke, dass Sie meine Familie hergefahren haben, obwohl ich sagen muss, dass ich überrascht bin, Sie hier zu sehen.«
»Ich möchte mich sehr dafür entschuldigen, dass ich Sie hier so überfalle, aber es ist wichtig, dass ich mit Ihnen spreche, und Martha sagte, dass es in Ordnung ist.«
»Martha sagte –«
»Ja, sie ist so eine liebe Frau. Sie ist offensichtlich in Sie vernarrt. Und lassen Sie mich sagen, was für ein feiner, junger Mann Chet ist. Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.«
»Nun ja, das bin ich. Aber –«
»Und bitte, nennen Sie mich Kathleen. Darf ich mich setzen?«, fragte sie, zog einen Klappstuhl heran und ließ sich vor ihm nieder, bevor er antworten konnte. »Martha sagte, es geht Ihnen soweit gut?«
»Ja, das stimmt.«
»Was ist denn überhaupt passiert? Die Ärzte haben uns nur gesagt, dass zwei Deutsche Schäferhunde Sie
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