Der unsichtbare Feind (German Edition)
beobachten
Sie, was ich mache.“
Sie ging zum Tisch hinüber, auf
dem das verdeckte Objekt aufgebahrt war, und schaltete die, einer fliegenden
Untertasse ähnelnden, LED-Operationslampe ein, die den Tisch mit hellem, weißen
Licht flutete. Danach schlug sie das Tuch zwei Mal um und entfernte es
schließlich vom Tisch. Der in ein blasses weiß-grau getauchte, reglose Körper
von Peter Müller kam darunter zum Vorschein. Er war nackt und seine Arme waren
auf der Brust verschränkt. Tanja löste die Gummibänder, mit denen kleine
transparente Kunststoffbeutel über Arme und Füße des Toten befestigt waren, und
zog sie vorsichtig ab. Sie verschloss die Säcke luftdicht und legte sie in
einer quadratischen Kiste ab.
„An den Fingern, vor allem
unter den Fingernägeln können sich wertvolle Hinweise befinden“, referierte
Sie, ohne zum Assistenten aufzublicken, „So könnte das Opfer womöglich seinen
Täter gekratzt haben, das würde uns wertvolle DNA Spuren liefern.“
Tanja räusperte sich, ehe
sie mit dem Bericht fortfuhr: „Wir werden nun die äußere Begutachtung
durchführen. Dazu wird es auch nötig sein, dass wir den Körper des Verstorbenen
drehen“, sagte sie, während ihr Blick bereits den Toten, wie ein Scanner,
abwanderte.
Die Kunst einer Obduktion
bestand in standardisiertem Vorgehen, ein Schritt nach dem anderen, Zeit durfte
keine Rolle spielen. Wenn man technisch an die Sache heranging, und den
leblosen Körper, als das betrachtete, was er war, Haut, Knochen, Muskeln, Haare
und Organe, dann war es bedeutend einfacher, als sich einen Menschen
vorzustellen, der Familie und Freunde hatte und seine ganz eigene Geschichte,
voll Freude und Tränen, Höhen und Tiefen hätte erzählen können. Emotionen waren
nichts was hierhergehörte, ein weiterer Grund für Tanja umzusatteln.
Während sie sich einen
ersten Überblick über die Leiche verschaffte, versank sie in tiefe
Konzentration.
„Der Verstorbene wurde als
Peter Müller identifiziert. Die Größe der Leiche beträgt“, sie las am in den
Obduktionstisch eingelassenen Maßstab ab, „ein Meter fünfundsechzig, das
Gewicht liegt bei genau einhundert Kilogramm. Der Verstorbene ist
dreiundfünfzig Jahre alt“, sie hielt kurz inne als sie seine Augenlieder mit
Zeigefinger und Daumen auseinander schob. Ein ausdrucksloses braunes Auge, von
einem weißen Film überzogen, blickte an ihr vorbei an die Decke. Sie schluckte kaum
merkbar und fuhr fort: „und hat braune Augen. Das Haar ist kurz geschnitten,
dicht und schwarz. An der Vorderseite des Körpers befinden sich keinerlei
Verletzungen, auch Narben oder Tätowierungen sind nicht vorhanden. Einzig ein Leberfleck,
Durchmesser fünf Millimeter, knapp unter der linken Axilla kann als besonderes
Merkmal herangezogen werden.“
Interessiert blickte der
Assistent über ihre Schultern hinweg auf die leblose Hülle. Jedes einzelne Wort,
das Tanja sprach, notierte er eifrig auf dem Formblatt 81a, für Obduktionen, dass
er auf seinem schwarzen Klemmbrett eingespannt hatte.
Als Nächstes richtete Tanja
ihr Augenmerk auf den Stumpf an Müllers rechter Hand: „Der Digitus Minimus
wurde hinter der Phalanx proximalis abgetrennt. Anhand der Schnittverletzungen
ist eindeutig erkennbar, dass dies durch einen wuchtigen Schlag mit einem
spitzen, aber nicht allzu scharfen Gegenstand geschehen sein muss.“
Sie betrachtete die Wunde
noch einmal von allen Seiten, bevor sie weitersprach: „Ähnlich einer Axt oder
eines Fleischerbeiles. Die Wunde war nicht letal. Verunreinigungen der
Schnittfläche oder möglicher Abrieb der Tatwaffe wurden bereits am Tatort
sichergestellt und dem Labor zur Untersuchung zugeführt. Ergebnisse sind noch
ausständig.“
Tanja nahm die steife Hand
des Toten und kratzte mit einem Schaber sorgfältig alle Rückstände unter seinen
Fingernägeln hervor, die sie in einem weiteren Gefäß sammelte, das sie
anschließend mit einem Schraubdeckel fest verschloss.
Eine halbe Stunde später war
Tanja mit der äußeren Begutachtung fertig. Vor ihr lag der völlig entkleidete
Körper eines Mannes fortgeschrittenen Altes. Erste Anzeichen von Altersflecken
auf tief weißer Haut, grauweiße Schambehaarung und Fetttaschen an den
Oberarmen.
„Ich werde nun die Sektion
beginnen. Schauen Sie genau zu.“
Sie setzte das Skalpell an
der Schulter an, und führte es mit einer einzigen flüssigen Bewegung bis zum
Brustbein. Die Klinge schnitt mühelos durch das blutleere Fleisch. Danach
tätigte sie einen
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