Der Untergang
Tschuikow nach Tempelhof zu entsenden.
Gegen zwei Uhr nachts brach Krebs auf und war rund anderthalb Stunden später am Schulenburgring, wo Tschuikow in einer Privatwohnung Quartier genommen hatte. Überrascht, wie der sowjetische Kommandeur von dem unvermittelten Gesprächsangebot war, hatte er keine Zeit gefunden, seinen Stab zusammenzurufen, und deshalb beschlossen, die zwei Schriftsteller, mit denen er sich gerade zu Tisch setzen wollte, sowie seinen Adjutanten und einige untere Chargen als seinen engsten »Kriegsrat« auszugeben. Unter den Gästen befand sich auch der Komponist Matwej I. Blanter, der von Stalin beauftragt worden war, eine Sinfonie über die Eroberung Berlins zu verfassen. Als sich aber herausstellte, daß Blanter keine Uniform besaß und daher nicht als Offizier der Roten Armee vorgestellt werden konnte, hatte der rabiate General ihn kurzerhand in den Schrank des Sitzungszimmers gesperrt und ihm befohlen, nicht den geringsten Laut von sich zu geben.
Krebs kam nach einigen Vorreden zur Sache. Als erstem Ausländer, begann er die Unterredung, teile er dem General vertraulich mit, daß Hitler am Vortag, zusammen mit der ihm kurz zuvor angetrauten Frau, im Bunker unter der Reichskanzlei Selbstmord begangen habe. Doch Tschuikow, der bis dahin weder von der Existenz eines Bunkers auf dem Reichskanzleigelände noch von Eva Braun die geringste Kenntnis gehabt hatte und schon gar nicht über Hitlers Selbstmord unterrichtet war, gab sich unbeeindruckt und behauptete, das sei ihm bereits bekannt. Dann las ihm Krebs ein von Goebbels aufgesetztes Schreiben vor. Es meldete die von Hitler getroffene Nachfolgeregelung und regte anschließend »Friedensverhandlungen zwischen den zwei Staaten« an, »die die größten Kriegsverluste zu verzeichnen« hätten.
Tschuikow zögerte keinen Augenblick. Ohne viele Worte verwarf er den allzu durchsichtigen und allzu verspäteten Versuch, die Alliierten durch eine Sonderabmachung doch noch auseinanderzubringen. Dann gab es Hinhaltungen. Denn zunächst mußte Marschall Schukow in Strausberg benachrichtigt werden, der wiederum Stalin aus dem Schlaf holen ließ, und der eine wie der andere lehnten ebenfalls alle zweiseitigen Verhandlungen ab. Auch der Vorschlag einer einstweiligen Waffenruhe wurde zurückgewiesen, man könne, meinte Tschuikow, nur die bedingungslose Kapitulation, sei es Berlins, sei es des Reiches, insgesamt erörtern.
Wie in jeder Tragödie fehlte auch in dieser der komödienhafte Einschuß nicht. Denn nach einigen Stunden fiel zu aller Überraschung der vergessene Blanter, der starr und wie angenagelt in seinem Versteck ausgeharrt hatte, polternd aus dem Schrank und der Länge nach in den Sitzungsraum. Nachdem man den Ohnmächtigen versorgt und in einen der Nebenräume geschafft hatte, ging die Verhandlung ohne jede Erklärung zu dem Zwischenfall weiter. Ein längerer Streit erhob sich, als Krebs darauf verwies, daß er ohne Rücksprache mit Goebbels oder Dönitz der Kapitulationsforderung nicht nachkommen könne. Am Ende erhielt er ein aus fünf Sätzen bestehendes Papier mit den sowjetischen Bedingungen: »1. Berlin kapituliert, 2. Alle Kapitulierenden haben die Waffen niederzulegen. 3. Allen Soldaten und Offizieren wird das Leben garantiert. 4. Den Verwundeten wird Hilfe geleistet. 5. Es wird die Möglichkeit für Verhandlungen mit den Alliierten über Funk geschaffen.« Würden diese Forderungen nicht erfüllt, erklärte Tschuikow dazu, werde die Kampftätigkeit augenblicklich und mit allen Kräften wieder aufgenommen. Nach nahezu zwölf Stunden machte Krebs sich auf den Rückweg in die Reichskanzlei.
Goebbels war empört. Er habe, sagte er, Berlin vor Jahren gegen die Roten erobert und werde die Stadt »bis zum letzten Atemzug gegen die Roten verteidigen. Die wenigen Stunden«, fügte er hinzu, »die ich noch als deutscher Reichskanzler zu leben habe, werde ich nicht dazu benutzen, meine Unterschrift unter eine Kapitulationsurkunde zu setzen.« Angesichts der verstörten, aufgeregt durcheinanderredenden Runde, die sich nur darüber einig war, alle Verhandlungen abzubrechen und keine weiteren Schritte zu unternehmen, entschloß sich Hans Fritzsche, einer der höheren Beamten des Goebbelsministeriums, zu einem Kapitulationsangebot auf eigene Faust.
Fritzsche ging in sein Büro am Wilhelmplatz hinüber und formulierte ein Schreiben an Marschall Schukow. Noch ehe es fertiggestellt war, stürmte plötzlich der betrunkene
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