Der Untergang des Abendlandes
sehnsuchtsvolle Musik. Etwas von Eichendorff und Mörike ist noch in Thoma und Böcklin zu finden. Nur bedurfte man einer fremden Lehre für das, was an eigner innerer Tradition fehlte. Alle diese Maler gingen nach Paris. Aber indem sie, wie Manet und sein Kreis, auch die alten Meister von 1670 studierten und kopierten, empfingen sie ganz neue, ganz andre Wirkungen, während die Franzosen nur Erinnerungen an etwas empfanden, das längst in ihre Kunst eingegangen war. Und so ist die deutsche bildende Kunst außerhalb der Musik – seit 1800 – eine verspätete Erscheinung, hastig, ängstlich, verworren, um Mittel und Ziel verlegen. Es war keine Zeit zu verlieren Was die deutsche Musik und die französische Malerei in Jahrhunderten geworden waren, sollte durch eine oder zwei Malergenerationen eingeholt werden. Die erlöschende Kunst drängte nach der letzten Fassung, die ein traumhaftes Durchfliegen der ganzen Vergangenheit notwendig machte. So erscheinen hier wunderlich faustische Naturen, wie Marées und Böcklin, von einer Ungewißheit in allem Formalen, die in unsrer Musik mit ihrer sicheren Tradition – man denke an Bruckner – ganz unmöglich war. Die programmatisch klare und innerlich um so ärmere Kunst der französischen Impressionisten kennt diese Tragik ebensowenig. Aber das gleiche gilt von der deutschen Literatur, die seit der Goethezeit in jedem größeren Werk etwas begründen wollte
und
etwas abschließen mußte. Wie Kleist, Shakespeare und Stendhal
zugleich
in sich fühlte und mit verzweifeltem Bemühen, in ewigem Ungenügen ändernd und zerstörend zweihundert Jahre psychologischer Kunst zur Einheit schmieden wollte; wie Hebbel die Problematik von »Hamlet« bis »Rosmersholm« in
einen
dramatischen Typus preßte, so haben Menzel, Leibl, Marées die alten und neuen Vorbilder: Rembrandt, Lorrain, van Goyen, Watteau, Delacroix, Courbet und Manet in eine einzige Form zu drängen versucht. Während die kleinen frühen Interieurs von Menzel alle Entdeckungen des Manetkreises vorwegnehmen und Leibl manches ausführt, woran Courbet scheiterte, ist andrerseits in ihren Bildern das metaphysische Braun und Grün der alten Meister noch einmal der volle Ausdruck eines inneren Erlebnisses. Menzel hat
wirklich
ein Stück preußisches Rokoko, Marées wirklich etwas von Rubens, Leibl in seinem Bild der Frau Gedon wirklich etwas von Rembrandts Porträtkunst nacherlebt und wiedererweckt. Das Atelierbraun des 17. Jahrhunderts hatte eine zweite Kunst von höchstem faustischem Gehalt zur Seite gehabt, die Radierung. Rembrandt ist in beiden der erste Meister aller Zeiten gewesen. Auch die Radierung hat etwas Protestantisches, und sie liegt den südlicheren, katholischen Malern der grünblauen Atmosphäre und der Gobelins immer fern. Leibl war, wie der letzte Braunmaler, so auch der letzte große Radierer, dessen Blätter von jener rembrandthaften Unendlichkeit sind, die den Betrachter immer wieder neue Geheimnisse entdecken läßt. Marées endlich besaß die mächtige Intuition des großen Barockstils, die Guéricault und Daumier noch eben in eine geschlossene Form bannen konnten, die sich aber in seinem Falle, eben
ohne
die Stärke der westlichen Tradition, nicht in die Welt der malerischen Erscheinung zwingen ließ.
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Im »Tristan« stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik. Die Malerei hat es nicht zu einem so mächtigen Finale gebracht. Manet, Menzel und Leibl, in deren Freilichtstudien die Ölmalerei alten Stils noch einmal wie aus dem Grabe hervorkommt, wirken dagegen klein.
Die apollinische Kunst ging »gleichzeitig« mit der pergamenischen Plastik zu Ende.
Pergamon ist das Seitenstück von Bayreuth.
Der berühmte Altar selbst ist zwar ein späteres und vielleicht nicht das bedeutendste Werk der Epoche. Man muß (etwa 330-220) eine lange, verschollene Entwicklung voraussetzen. Aber alles, was Nietzsche gegen Wagner und Bayreuth, den »Ring« und den »Parsifal« vorbrachte, läßt sich, unter Gebrauch ganz derselben Ausdrücke wie Dekadenz und Schauspielerei, auf diese Plastik anwenden, von der uns im Gigantenfries des großen Altars – auch einem »Ring« – ein Meisterwerk erhalten ist. Dieselbe Theatralik, dieselbe Anlehnung an alte, mythische, nicht mehr geglaubte Motive, dieselbe rücksichtslose Massenwirkung auf die Nerven, aber auch dieselbe sehr bewußte Wucht, Größe und Erhabenheit, die dennoch einen Mangel an innerer Kraft
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