Der Untergang des Abendlandes
Schar siegreich in weite Gebiete einbricht, da ist es regelmäßig die Stimme des Blutes, die Sehnsucht nach einem großen Schicksal, das Heldentum echter Rassemenschen, das sie treibt.
Man muß aber auch ein Bild der Lage in den durchstreiften Ländern besitzen. Diese Züge sind beständig etwas anderes geworden, und das hing nicht nur vom Geist der Wanderer ab, sondern mehr und mehr vom Wesen der seßhaften Bevölkerung, die zuletzt in entschiedener Überzahl vorhanden war. Es ist klar, daß in fast menschenleeren Räumen ein einfaches Ausweichen des Schwächeren möglich und Regel ist.
In den Zuständen späterer Dichte handelt es sich aber um ein Heimatloswerden des Schwächeren, der sich verteidigen oder um ein neues Land kämpfen muß. Man drängt sich bereits im Raume. Kein Stamm lebt ohne beständige Fühlung nach allen Seiten und ohne eine mißtrauische Bereitschaft zum Widerstand. Die harte Notwendigkeit des Krieges züchtet Männer. Völker wachsen an Völkern und gegen Völker zu innerer Größe heran. Die Waffe wird zur Waffe gegen Menschen, nicht gegen Tiere. Endlich ist jene Wanderungsform da, von der in historischer Zeit allein die Rede sein kann: streifende Scharen bewegen sich in durchaus bewohntem Gebiete, dessen Bevölkerung als ein wesentlicher Bestandteil des Eroberten seßhaft und erhalten bleibt; die Sieger sind in der Minderzahl und es treten damit ganz neue Lagen ein. Völker von starker innerer Form schichten sich über viel größere, aber formlose Bevölkerungen, und die weitere Verwandlung der Völker, Sprachen, Rassen hängt von sehr verwickelten Einzelheiten ab. Seit den entscheidenden Untersuchungen von Beloch [Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (1886).] und Delbrück [Geschichte der Kriegskunst (zuerst 1900).] wissen wir, daß alle Wandervölker – und Völker in diesem Sinne waren die Perser des Kyros, die Mamertiner und die Kreuzfahrer ebensogut wie die Ostgoten und die »Seevölker« der ägyptischen Inschriften – im Verhältnis zur Bewohnerschaft der besetzten Gebiete sehr klein waren, wenige tausend Krieger stark und den Eingebornen überlegen allein durch ihre Entschlossenheit, ein Schicksal zu sein und nicht zu erleiden. Nicht bewohnbares, sondern bewohntes Land wird in Besitz genommen: damit wird das Verhältnis beider Bevölkerungen auch zu einer Standesfrage, die Wanderung zu einem Feldzuge und das Seßhaftwerden zu einer politischen Aktion. Und hier, wo der Erfolg einer kleinen Kriegerschar mit seiner Wirkung: der Ausbreitung von Namen und Sprache der Sieger, aus historischer Ferne allzu leicht als »Völkerwanderung« erscheint, muß die Frage noch einmal gestellt werden: Was alles kann wandern?
Der Name einer Landschaft oder eines Verbandes – es kann auch der eines Helden sein, den das Gefolge trägt –, indem er sich verbreitet, dort erlischt und hier von einer ganz anderen Bevölkerung angenommen oder ihr gegeben wird, indem er vom Lande auf Menschen übergeht und mit ihnen zieht oder umgekehrt; die Sprache der Sieger oder Besiegten – oder auch eine dritte, die beide zu ihrer Verständigung annehmen; die Gefolgschaft eines Häuptlings, die ganze Länder unterwirft und sich durch erbeutete Weiber fortpflanzt, oder ein zufälliger Haufe von Abenteurern verschiedenster Herkunft oder eine Völkerschaft mit Weib und Kind, wie die Philister, die ganz nach germanischer Art um 1200 v. Chr. mit ihren vierspännigen Ochsenwagen längs der phönikischen Küste nach Ägypten zogen. [Ramses III., der sie schlug, hat ihren Zug in seinen Reliefs von Medinet Habu abgebildet, W. M. Müller, Asien und Europa, S. 366.] Und deshalb muß noch einmal gefragt werden: Darf man aus dem Schicksal von Sprachen oder Namen auf das von Völkern oder Rassen schließen? Es ist nur eine Antwort möglich: ein entschiedenes Nein.
Unter den »Seevölkern«, die Ägypten im 13. Jahrhundert immer wieder angriffen, erscheinen die
Namen
der Danaer und Achäer, aber bei Homer sind beide fast mythische Bezeichnungen; dann der
Name
der Lukka, der später an Lykien haftet, aber dessen Bewohner nennen sich Tramilen; endlich die
Namen
der Etrusker, Sarden und Sikuler, aber daraus folgt
nicht
, daß diese Turscha, das spätere Etruskisch, sprachen,
nichts
für ihren leiblichen Zusammenhang mit den gleichnamigen Bewohnern Italiens; und selbst wenn beides gesichert wäre, nichts für das Recht, von »ein und demselben
Volke
« zu sprechen. Angenommen, die Inschrift von Lemnos wäre
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