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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Parlament übertragen, wie die Unverletzlichkeit der römischen Könige auf die Tribunen. Auch das genealogische Prinzip ist da, aber es kommt in den Familienbeziehungen innerhalb des hohen Adels zum Ausdruck, welche auf die parlamentarische Lage einwirken. Im Familieninteresse der Cecils hat 1902 Salisbury seinen Neffen Balfour an Stelle Chamberlains als Nachfolger vorgeschlagen. Die Adelsfaktionen der Tories und Whigs sondern sich immer deutlicher, und zwar sehr oft innerhalb derselben Familie, nach dem Überwiegen des Macht- oder des Beutestandpunktes, nach der höheren Wertschätzung von Grundbesitz also und von Geld, [
Landed
und
funded interest
(J. Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte [1913] . S. 589 ff.). R. Walpole, der Organisator der Whigpartei (seit 1714), pflegte sich und den Staatssekretär Townshend als »die Firma« zu bezeichnen, die mit verschiedenen Inhabern bis 1760 unumschränkt regiert hat.] was noch im 18. Jahrhundert innerhalb des höheren Bürgertums die Begriffe
respectable
und
fashionable
entstehen läßt, als zwei entgegengesetzte Auffassungen des Gentleman.
    Die staatliche Sorge für alle ist unbedingt durch das Standesinteresse ersetzt, für das der einzelne Freiheit in Anspruch nimmt – das ist englische Freiheit –, aber das Inseldasein und der Aufbau der
society
haben Verhältnisse geschaffen, in welchen zuletzt jeder,
der dazu gehört
– ein wichtiger Begriff in einer Standesdiktatur –, sein Interesse in dem einer der beiden Adelsparteien vertreten findet.
    Diese aus dem historischen Gefühl des abendländischen Menschen entspringende Beständigkeit der letzten, tiefsten und reifsten Form ist der Antike versagt. Die Tyrannis verschwindet. Die strenge Oligarchie verschwindet. Der Demos, den die Politik des 6. Jahrhunderts als Summe aller einer Polis zugehörigen Menschen geschaffen hatte, bricht in Adel und Nichtadel in ungeregelten Stößen hervor und beginnt einen Kampf,
in
den Staaten und
zwischen
den Staaten, in dem beide Parteien den Gegner auszurotten suchen, um nicht ausgerottet zu werden. Als Sybaris noch im Zeitalter der Tyrannis 511 von den Pythagoräern vernichtet wurde, wirkte das erste Ereignis dieser Art erschütternd auf die ganze antike Welt. Selbst im fernen Milet legte man Trauer an. Jetzt wird die Vertilgung einer Polis oder Partei so gewöhnlich, daß sich feste Sitten und Methoden ausbilden, entsprechend dem Schema der abendländischen Friedensschlüsse des späten Barock: ob man die Bewohner tötet oder als Sklaven verkauft, ob man die Häuser dem Erdboden gleichmacht oder als Beute austeilt. Der Wille zum Absolutismus ist da, und zwar seit den Perserkriegen überall, in Rom und Sparta so gut wie in Athen, aber die
gewollte
Enge der Polis, des politischen Punktes, und die
gewollte
Kurzfristigkeit ihrer Ämter und Ziele machen eine geordnete Entscheidung darüber unmöglich, wer »der Staat sein soll«. [R. v. Pöhlmann, Griech. Geschichte (1914), S. 223–245.] Jener Meisterschaft der mit Tradition gesättigten abendländischen Kabinettsdiplomatie tritt hier ein Dilettantismus entgegen, der nicht im zufälligen Mangel an Persönlichkeiten begründet ist – die waren vorhanden –, sondern allein in der politischen Form. Der Weg dieser Form von der ersten zur zweiten Tyrannis ist unverkennbar und entspricht ganz der Entwicklung in allen Spätzeiten, aber der spezifisch antike Stil ist die Unordnung, der Zufall, wie es in diesem am Augenblick haftenden Leben nicht anders sein kann.
    Das wichtigste Beispiel dafür ist die Entwicklung Roms während des 5. Jahrhunderts, die bis jetzt auch deshalb so umstritten geblieben ist, weil man in ihr eine Beständigkeit suchte, die hier wie in allen antiken Staaten gar nicht vorhanden sein kann. Es kommt dazu, daß man diese Entwicklung wie etwas ganz Primitives behandelt, während in Wirklichkeit die Stadt der Tarquinier schon sehr fortgeschrittene Zustände besessen haben muß und das primitive Rom viel weiter zurückliegt. Die Verhältnisse des 5. Jahrhunderts sind klein gegenüber der Zeit Cäsars, aber nicht altertümlich. Allein da die schriftliche Überlieferung mangelhaft war – wie überall außer in Athen –, so hat der literarische Geschmack seit den Punischen Kriegen die Lücken mit Dichtung ausgefüllt, und zwar, wie das in der Zeit des Hellenismus nicht anders zu erwarten ist, mit idyllischer Altertümelei; man denke an Cincinnatus. Die moderne Forschung glaubt nichts mehr von diesen Geschichten, aber

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