Der Unterhändler
Entfernungen sind klein und die Reisezeiten noch kürzer. Quinn nahm die E 5, die Ostende in östlicher Richtung verläßt, passierte Brügge und Gent, fuhr dann auf der E 3 nach Nordosten und erreichte die Innenstadt von Antwerpen rechtzeitig für ein spätes Mittagessen.
Der europäische Kontinent war für Sam unbekanntes Territorium; Quinn aber schien sich auszukennen. Sie hatte ihn in den paar Stunden, die sie in Belgien waren, mehrmals fließend französisch sprechen hören, aber eines nicht verstanden: Jedesmal hatte Quinn die Flamen erst gefragt, ob sie etwas dagegen hätten, wenn er französisch spräche. Die Flamen sprechen in der Regel etwas Französisch, haben es aber gern, vorher gefragt zu werden – nur um klarzustellen, daß sie keine Wallonen sind.
Sie quartierten sich in einem kleinen Hotel an der Italie Lei ein und gingen um die Ecke in eines der vielen Restaurants zu beiden Seiten der De Keyser Lei.
»Wonach suchst du eigentlich«, fragte Sam beim Essen.
»Nach einem Mann«, antwortete Quinn.
»Nach was für einem Mann?«.
»Das werd’ ich wissen, wenn ich ihn sehe.«
Nach dem Mittagessen stellte Quinn einem Taxifahrer ein paar Fragen auf französisch, und dann fuhren sie los. Er ließ an einem Laden für Zeichenbedarf halten, machte dort ein paar Einkäufe, erstand an einem Zeitungskiosk eine Straßenkarte und beriet sich wieder mit dem Taxifahrer. Sam hörte die Worte Falcon Rui und dann Schipper Straat. Der Fahrer warf ihr einen anzüglichen Blick zu.
Die Falcon Rui war, wie sich zeigte, eine heruntergekommene Straße, gesäumt unter anderem von mehreren billigen Konfektionsgeschäften. In einem davon erstand Quinn einen Seemannspullover, Leinenjeans und derbe Stiefel. Er stopfte alles in einen Jutesack, und dann machten sie sich auf den Weg zur Schipper Straat. Über den Dächern sah sie die Schnäbel großer Kräne, ein Zeichen, daß sie in der Nähe des Hafens waren.
Quinn bog von der Falcon Rui in ein Labyrinth aus schmalen, schäbigen Straßen ab, in ein Viertel aus alten heruntergekommenen Häusern zwischen der Falcon Rui und der Schelde. Sie begegneten einigen vierschrötigen Kerlen, die den Eindruck von Handelsmatrosen machten. Auf der linken Seite war ein beleuchtetes Spiegelglasfenster. Sam schaute kurz hinein. Eine dralle junge Frau, die aus einem knappen Slip und einem Büstenhalter quoll, rekelte sich in einem Sessel.
»Mein Gott, Quinn, wir sind ja hier im Rotlichtbezirk«, protestierte sie.
»Ich weiß«, sagte er, »danach hab’ ich ja den Taxifahrer gefragt.«
Er ging weiter, schaute nach rechts und links, las die Schilder über den Läden. In der Hauptsache waren es Kneipen und beleuchtete Fenster, hinter denen die Prostituierten saßen. Es gab nur wenige Läden. Schließlich fand er doch drei von der Art, nach der er Ausschau hielt, alle innerhalb von 150 Yards.
»Tätowierer?« fragte sie.
»Hafenviertel«, sagte er kurz. »Das bedeutet Matrosen, und Matrosen bedeuten Tätowierungen. Wo sie sind, gibt’s auch Kneipen und Mädchen und die Ganoven, die von Mädchen leben. Wir kommen heute abend wieder her.«
Senator Bennett Hapgood erhob sich, als seine Redezeit begann, von seinem Sitz im Senat und schritt zum Podium. Am Tag nach Simon Cormacks Begräbnis hatten beide Häuser des amerikanischen Kongresses noch einmal ihre Bestürzung und ihren Abscheu über das bekundet, was eine Woche vorher auf einer einsamen Landstraße im fernen England geschehen war. Redner um Redner hatten tatkräftiges Handeln gefordert, um die Täter aufzuspüren und der Gerechtigkeit zuzuführen, koste es, was es wolle. Mit Gerechtigkeit war die amerikanische Justiz gemeint. Der Präsident klopfte mit seinem Hämmerchen aufs Pult.
»Der zweite Senator aus Oklahoma hat das Wort«, verkündete er.
Bennett Hapgood galt nicht als Schwergewicht im Senat. Der Saal wäre wohl nur schwach besetzt gewesen, hätte nicht dieses Thema auf der Tagesordnung gestanden. Man nahm nicht an, daß der zweite Senator für Oklahoma noch viel Neues hinzuzufügen haben werde. Doch es kam anders. Er sprach erwartungsgemäß dem Präsidenten sein Mitgefühl aus, gab seinem Abscheu über die Untat und seinem Verlangen Ausdruck, die Schuldigen bald der Gerechtigkeit zugeführt zu sehen. Dann machte er eine Pause, um sich zurechtzulegen, was er sagen wollte.
Er wußte, es war ein riskantes Spiel, ein höchst riskantes Spiel. Was er gesagt bekommen hatte, hatte er gesagt bekommen, aber er besaß keinen
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