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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Wangenknochen. Große schwarze Augen blickten sehnsüchtig in die Welt. Ihre Lippen waren rot und sinnlich. Chaplain musste an Schneewittchens vergifteten Apfel denken. Das Bild dieser Frau verströmte eine unglaubliche Erotik.
    Dabei hatte er etwas ganz anderes erwartet. Die Stimme hatte eher nach kühler Eleganz und gebieterischer Schönheit geklungen, dem Namen nach hingegen hätte sie ein dunkles, üppiges Geschöpf arabischer Herkunft sein können. Was er jedoch sah, war ein hübsches Mädchen vom Land, aus einer Kolchose vielleicht. Möglicherweise stammte sie aus der Kabylei. Das Foto war auf einem Schiff aufgenommen. Chaplain fragte sich, ob er es vielleicht selbst auf einem gemieteten Segelboot gemacht hatte.
    Er nahm das Bild aus dem Rahmen, steckte es in die Tasche und begann seinen Rundgang. Überraschende Entdeckungen machte er nicht. Er befand sich in der Wohnung einer modernen, wohlhabenden, intellektuellen Pariserin. Allerdings fand sich nirgends ein Hinweis auf einen Beruf oder irgendeine Tätigkeit. Hingegen gab es einige Anzeichen dafür, dass Medina Studentin war. In Regalen im Wohn- und Schlafzimmer sowie im Flur standen alphabetisch sortierte Bücher, die sich mit Philosophie, Literatur, Ethnologie und Philologie befassten. Schwere Kost.
    In einer Schublade entdeckte Chaplain schließlich auch einen Studentenausweis. Medina Malaoui war achtundzwanzig Jahre alt und in den Promotionsstudiengang Philosophie an der Sorbonne eingeschrieben. Beim Weitersuchen fand er auch das Studienbuch. Sie stammte aus Nordfrankreich, hatte ihr Abitur in Saint-Omer und ihren Magister in Philosophie in Lille gemacht. In ihrer Doktorarbeit ging es um die Werke von Maurice Merleau-Ponty. Der Titel der Arbeit war drei Zeilen lang und klang ziemlich unverständlich.
    Chaplain dachte nach. Womit verdiente Medina ihren Lebensunterhalt? Hatte sie einen reichen Papi? Einen Nebenjob? Antworten fand er keine, aber der Kleiderschrank warf neue Fragen auf. Prada, Chanel, Gucci, Barbara Bui. In den oberen Regalen lagen Handtaschen vom Feinsten, auf den unteren fand sich eine illustre Schuhsammlung. Wie konnte sich Medina diesen Luxus leisten? Seit wann war Philosophie derart einträglich? Oder war sie etwa die Komplizin seiner Machenschaften gewesen? Langsam wird es beängstigend. Ich bin kurz davor auszuflippen .
    Er suchte weiter, fand aber nichts Persönliches. Weder Taschenkalender noch Laptop. Keine Rechnungen. Keine Behördenbriefe.
    An der Eingangstür lag ein dicker Packen ungeöffneter Post. Der älteste Brief stammte von Ende August. Wie bei ihm selbst handelte es sich hauptsächlich um Werbesendungen. Auch hier fand er weder Rechnungen noch Kontoauszüge. Wahrscheinlich erledigte sie diese Dinge komplett im Internet. Aber wo war Medina? War sie tot? Viele Fragen drängten sich Chaplain auf. Wo hatte er diese Frau kennengelernt? Bei sasha.com ? Oder auf einer Dating-Seite? Er stellte sich das Mädchen vom Foto bei einem von Sashas Abenden mit dem tibetanischen Gong vor. Sie hätte bestimmt Furore gemacht.
    Ein letztes Mal suchte er nach Hinweisen auf eine überstürzte Abreise. Oder etwas noch Endgültigeres. Wie etwa verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank. Oder ein wildes Durcheinander im Bad. Die vollen Schränke ließen darauf schließen, dass Medina sich nicht die Mühe gemacht hatte, einen Koffer zu packen.
    Chaplain verließ die Wohnung auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war. Seine einzige Beute steckte in der Innentasche seines Jacketts: das Foto einer hübschen, slawisch aussehenden Frau mit arabischem Namen. Mehr brauchte er nicht. Er hatte den traurigen Verdacht, dass Medina nicht mehr unter den Lebenden weilte.
    Unter dem Deckengewölbe des Erdgeschosses tauchte wie aus dem Nichts eine etwa sechzigjährige Frau in blauem Kittel vor ihm auf, die einen Schrubber und einen Eimer Putzwasser durch den Flur schleppte.
    »Zu wem wollen Sie?«
    Zunächst wollte Chaplain lügen, doch dann besann er sich. Die Hausmeisterin konnte ihm vielleicht wichtige Informationen liefern.
    »Zu Medina Malaoui.«
    »Sie ist nicht da.«
    »Verreist?«
    »Ja, schon seit einiger Zeit.«
    »Wie lange etwa?«
    Die Frau warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
    »Sind Sie ein Freund?«, fragte sie schließlich.
    »Nein, einer ihrer Professoren«, improvisierte er. »Seit wann ist sie fort?«
    »Schon seit ein paar Monaten. Aber die Miete ist bezahlt.«
    »Hat sie denn gar nichts gesagt?«
    »Sie sagt nie etwas, die Kleine.«
    Ihr

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