Der Ursprung des Bösen
Innerhalb weniger Sekunden hatte sie sich die nächste Zigarette gerollt.
»Hat er Ihnen einmal von einem Traum erzählt, den er immer wieder träumt?«
»Was für ein Traum?«
»Er geht durch ein sonnenbeschienenes Dorf. Irgendetwas explodiert mit einem extrem hellen Licht, und sein Schatten bleibt an einer Mauer kleben.«
»Noch nie.«
Auch dies sah Freire als Bestätigung. Der Traum war auf das traumatische Ereignis zurückzuführen. Er dachte an die Querverbindungen zu Pascal Mischell. Peter Schlemihl. Hiroshima.
»Liest Patrick viel?«
»Ununterbrochen. In unserem Haus sieht es aus wie in der Stadtbibliothek.«
»Was interessiert ihn am meisten?«
»Vor allen Dingen Geschichte.«
Vorsichtig kam Freire auf den Tag X zu sprechen.
»Als Patrick zur Bank aufbrach, hat er da vielleicht noch von einer anderen Besorgung oder einem Besuch gesprochen?«
»Warum wollen Sie das alles wissen? Sind Sie vielleicht Polizist oder so?«
»Ich versuche zu verstehen, was mit ihm geschehen ist. Im Kopf meine ich. Und dazu muss ich Stück für Stück den Tag rekonstruieren, an dem er sich selbst verloren hat. Ich will ihm helfen, verstehen Sie?«
Ohne zu antworten machte sie eine ausladende Geste mit ihrer Zigarette. Schweigend kehrten sie an den Landungssteg zurück. Bonfils schraubte immer noch an seinem Motor herum. Ab und zu tauchte sein Gesicht über der Bordwand auf. Selbst auf diese Entfernung wirkte er heiter und glücklich.
»Ich möchte Patrick wiedersehen«, erklärte Freire.
»Nein«, sagte Sylvie und warf ihre Kippe ins Meer. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Was Sie getan haben, war super, doch jetzt bin ich an der Reihe. Ich bin zwar keine Ärztin, aber ich weiß, was Patrick jetzt braucht – nämlich dass wir über den ganzen Schlamassel nicht mehr reden.«
Freire verstand, dass es keinen Sinn machte, weiter in sie zu dringen.
»Okay«, sagte er. »Aber vorsichtshalber gebe ich Ihnen trotzdem die Nummer eines Kollegen in Bayonne oder Saint-Jean-de-Luz. Das, was Patrick passiert ist, sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, verstehen Sie? Er muss in Behandlung bleiben.«
Die kleine Frau antwortete nicht. Freire schüttelte ihr die Hand und winkte zu Patrick hinüber, der begeistert zurückwinkte.
»Ich rufe Sie morgen an, einverstanden?«
Sie antwortete nicht. Vielleicht aber war ihre Antwort auch nur vom Wind verweht worden. Freire ging die schräge Betonmole hinauf, öffnete die Autotür und drehte sich noch einmal um. Sylvie lief in ihrem merkwürdigen Wackelgang auf ihren Mann zu.
Der Psychiater stieg in seinen Wagen.
Ob sie nun wollten oder nicht – er würde diesen beiden verkrachten Existenzen helfen.
I ch suche das Wurmloch.«
Die schwarze Hand fuhr unruhig über die Risse in der Wand der Ausnüchterungszelle.
»Und wenn ich es gefunden habe, haue ich ab!«
Anaïs machte sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. Seit zehn Minuten ertrug sie die Hirngespinste des Säufers Raoul und konnte sich nur noch mühsam beherrschen.
»Ich muss nur dieser Linie hier folgen«, fuhr der Penner fort und beäugte den nächsten Riss.
Anaïs beschloss, ernst zu machen. Sie zog einen Bag-in-Box-Wein, den sie unterwegs gekauft hatte, aus einer Plastiktüte. Sofort leuchteten Raouls Augen auf wie zwei glühende Kugeln. Er griff nach dem Wein und leerte den Plastikbeutel in einem Zug.
»Wie war das mit Philippe Duruy?«
Der Penner wischte sich den Mund mit einem Ärmel ab und rülpste laut.
»Fifi? Den kenne ich gut. Er sagt immer, sein Herzschlag ist bei hundertzwanzig und sein Gehirn bei acht Komma sechs.«
Anaïs verstand die Anspielungen. Das Tempo von Technomusik lag bei hundertzwanzig Beats per Minute, und die acht Komma sechs verwiesen auf den Alkoholgehalt von bayrischem Bier – dem Starkbier, das Punks und abgedrehte Typen jeglicher Couleur gern tranken. Raoul sprach von Fifi in der Gegenwart. Er wusste nicht, dass der Junge tot war.
»Genau genommen ist er ganz schön bescheuert.«
»Ich dachte, ihr wärt Kumpels.«
»Freundschaft hindert einen doch nicht daran, klar zu sehen.«
Beinahe hätte Anaïs laut aufgelacht. Der Penner fuhr fort:
»Fifi, der versucht alles Mögliche und lässt es dann wieder fallen. Er nimmt Heroin und geht auf Entzug. Er hört Metal, dann hört er Techno. Mal ist er Goth, am nächsten Tag ist er Punk.«
Anaïs versuchte, sich den Tagesablauf des Jungen vorzustellen. Ein Leben voller Irrwege, Prügeleien und Trips. Hier ein Schuss Heroin, dort ein
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