Der Väter Fluch
nämlich, dass du nicht mehr sauer auf mich bist.«
»Ich bin nie sauer auf dich.«
»Quatsch, du bist ständig sauer auf mich.« Er grinste. »Ich bin nur nicht oft genug zu Hause, um es immer mitzukriegen. Pass auf dich auf. Da draußen laufen 'ne Menge Verrückte herum.«
»Das Gleiche könnte ich zu dir sagen.«
»Allerdings. Aber es würde nichts ändern.«
Das Zimmer wirkte deprimierend, als erwarte es seinen Bewohner jeden Moment zurück. Decker konnte sehen, dass der Raum einmal lebendig gewesen war - ein sich ständig veränderndes Diorama, das Ernestos wechselnde Launen und Vorlieben widerspiegelte, angefangen bei der Auswahl der CDs bis hin zu den Postern an der Wand. Beim »Arbeitsplatz« des Jungen handelte es sich um einen an den Wänden entlang verlaufenden Schreibtisch. Ernesto besaß eine teure Stereoanlage, einen teuren Computer, einen Videorecorder, einen DVD-Player, ein Faxgerät und ein Telefon - überall nur das Beste vom Besten, wo Decker auch hinsah.
Der Junge, der alles hatte: Jetzt war er nur noch eine Zahl in der Statistik.
Auf den Regalen über den Tischplatten befanden sich zahlreiche Videos, stapelweise CDs, dutzende von Sporttrophäen, zerknitterte Bonbonpapierchen, alte Briefe, überfällige Leihbücher, mehrere Papierstapel, Notiz- und Schulbücher sowie etwa dreißig Taschenbücher, die meisten davon Fantasy. Das Zimmer verfügte über drei Türen - eine zum Badezimmer, eine zu einem begehbaren Kleiderschrank und eine dritte zum Flur. In der Mitte des Raums stand ein übergroßes Bett, über das eine Tagesdecke mit Leopardenfellmuster gebreitet war - ein guter Platz zum Sortieren und Sammeln der Berge von Papier und Unterlagen, die Ernesto zurückgelassen hatte. Decker machte sich an die Arbeit.
Zweieinhalb Stunden später hatte er sechs Jahre von Ernestos Leben mithilfe seiner Schulaufgaben rekonstruiert. Der Junge war ein anständiger Schüler - besser als Jacob zu seiner Zeit -, aber nicht unbedingt brillant. Er hatte Organisationsprobleme bei seinen Schularbeiten, den Matheaufgaben, den Aufsätzen. Kein Wunder angesichts des Chaos, das in dem Zimmer herrschte, obwohl diese beiden Aspekte - aufgeräumtes Zimmer und gut organisierte Hausaufgaben - nicht immer Hand in Hand gingen. Sam- mys Zimmer war ein Schweinestall, aber was seine Schularbeiten betraf, ging er absolut systematisch vor. Jacob dagegen war schon fast zwanghaft ordentlich, aber schlecht organisiert. Mit Blick für das kleinste Detail inspizierte Decker jede Schublade, jedes Regal und sogar das Bettzeug. Er sah hinter die Elektronikgeräte, klopfte die Wände ab und überprüfte den Fußboden. Er fand zahlreiche lose Blätter, aber nichts, was auf ein Projekt zu einem Familienstammbaum hindeutete. Nicht einmal Notizen, Entwürfe oder sonstige Hinweise ließen sich dazu finden.
Möglicherweise hatte Ernesto sich mit seiner Herkunft abgefunden und sämtliche Unterlagen darüber vernichtet. Decker entdeckte keinen einzigen Newsletter oder Computerausdruck von irgendwelchen weißen Suprematisten oder Neonazigruppen, keine Flugzettel von den HVR und keine Fotografien von SS-Offizieren oder toten Juden. Und auch keine obszönen Briefe von Ruby Ranger.
Im Badezimmer fanden sich ebenfalls keinerlei Hinweise. Auf dem Regal standen Aknemittel, Tabletten gegen Heuschnupfen, ein verschreibungspflichtiges Schuppenshampoo. Decker durchsuchte den Wäscheschrank, das Fach mit Toilettenartikeln und das Medizinschränkchen. Er öffnete alte Flaschen und roch daran. Klopfte eine Flasche mit Talkumpuder auf seine Hand, schnüffelte daran, gab etwas auf seine Zungenspitze und verzog das Gesicht. Es war Talkumpuder. Ernesto hatte keine verräterischen bunten Pillen, keine versteckten Injektionsnadeln, nichts Belastendes, soweit Decker das feststellen konnte.
Dann kam er zu Ernestos begehbarem Kleiderschrank.
Der Raum war deckenhoch mit Regalen voller Hemden und T-Shirts gefüllt - Polohemden, Hemden mit halbem Arm, Hawaiihemden, normale T-Shirts, Muskel-T- Shirts und Tanktops. Er besaß Hosen in jeder Farbe, Hosen aus Wollstoff und Baumwollhosen. Er verfügte über mehrere Anzüge und ein halbes Dutzend Sportjacketts, darunter zwei klassische blaue Blazer. Darüber hinaus standen stapelweise Schuhe herum.
Decker seufzte.
Als Nächstes öffnete er die eingelassenen Schubladen.
Weitere T-Shirts. Smokinghemden, gebügelt und gefaltet. Shorts und Badehosen. Unterwäsche, sowohl Slips als auch Boxershorts. Alles in allem ziemlich
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