Der Väter Fluch
normal - wenn man von der Menge absah - und ziemlich deprimierend.
Zwei separate Sockenschubladen: eine für weiße Sportsocken, die andere für Herrensocken in unterschiedlichen Farben, die einen leichten Kräuterduft verströmten. Decker begann, die Sockenpaare auseinander zu ziehen. Er fand einen kleinen Beutel mit Marihuana - nicht mehr als ein paar Gramm. Das war's aber auch schon an Drogen. Aber an der Schublade mit den Sportsocken fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf: Wenn man diese Schublade vollständig herauszog, war sie mindestens fünfzehn Zentimeter kürzer als die andere.
Decker versuchte, die Schublade aus den Schienen zu heben, damit er dahinter sehen konnte, aber sie ließ sich nicht bewegen. Er widerstand dem Drang, die Schublade mit brutaler Gewalt herauszureißen. Irgendwo musste es einen Knopf zum Lösen der Sperre geben. Er entfernte alle Socken und beugte sich über die leere Schublade. Da er nichts erkennen konnte, tastete er sie mit den Fingern ab und entdeckte eine winzige Vertiefung in der linken hinteren Ecke, kaum größer als eine Kugelschreiberspitze. Er nahm einen Stift aus der Tasche und drückte ihn in die Vertiefung. Sofort löste sich die Sperre. Decker zog die Schublade heraus und warf einen Blick in das dahinter liegende Geheimfach.
Am hinteren Ende des Fachs entdeckte er eine kleine Stahlkassette, die durch ein Kombinationsschloss gesichert war. Er nahm sie heraus und wog sie in der Hand. Sie war erstaunlich leicht. Das Problem war jetzt: Sollte er die Eltern nach der Kombination fragen oder die Kassette einfach mitnehmen?
Er entschied sich dafür, die Eltern zu fragen, insbesondere Carter, der die Kombination jedoch nicht kannte und noch nicht einmal von der Existenz dieser Kassette gewusst hatte. Er verhielt sich abweisend, was aber dem Bedürfnis entsprach, das Andenken seine Sohnes schützen zu müssen.
»Was erwarten Sie denn in der Kassette vorzufinden?«, fragte Golding.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht Drogen.«
»Falls es sich um Drogen handelt, spielt das jetzt wohl kaum noch eine Rolle, oder?«
»Es sei denn, er hat damit gedealt. Das könnte der Grund für seine Ermordung gewesen sein.«
»Er hat nicht gedealt.«
»Er hat zumindest Drogen genommen. Ich habe bereits eine kleine Menge in seinen Socken gefunden. Es könnte sein, dass er in der Kassette eine Platte aufbewahrte und für seinen persönlichen Gebrauch etwas davon abgebrochen hat.«
Golding schwieg.
»Wann war Ernestos Geburtstag?«, fragte Decker. Eine einfache Frage, die sogar Golding beantworten konnte. Er nannte Decker das Datum, wenn auch zögerlich. Nachdem Decker eine Weile an der Kombination herumgefummelt hatte, sprang das Schloss schließlich auf. Keine Drogen, keine Waffen, keine Briefe, kein Familienstammbaum, aber zahlreiche belastende Bilder, die die ganze Kassette füllten. Keine pornografischen Fotos, sondern obszöne Bilder. Männer in gestreifter Sträflingskluft, allesamt tot. Etwa zwanzig Schwarzweißaufnahmen, und alle gestochen scharf - jeder von ihnen mit einem eigenen Gesichtsausdruck im Tod. Einige mit geöffnetem Mund, andere mit aufgerissenen Augen, aber alle mit dem ausgezehrten Gesicht verhungerter Menschen. Voller Entsetzen starrte Golding auf die Bilder. »Das ist ja entsetzlich... widerwärtig. Legen Sie sie sofort weg!«
»Ich möchte sie mitnehmen...«
»Nehmen Sie sie! Entfernen Sie sie aus meinem Haus!«
Decker hielt die Fotos so, dass Golding sie nicht sehen konnte. »Das sind Originalaufnahmen. Haben Sie eine Vorstellung, wo Ernesto die herhaben könnte?«
»Nein!«, flüsterte Golding mit Angst in der Stimme. »Nein, woher soll ich das wissen?« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, nehmen Sie die Fotos, und verschwinden Sie!«
»Es tut mir Leid, Sie noch einmal belästigen zu müssen...«
»Bitte. Bitte, gehen Sie endlich!«
»Mr. Golding, sind Sie sicher, dass wir uns noch intensiver mit der Vergangenheit Ihres Vaters beschäftigen sollen?«
»Ja.« Langsam richtete Golding seinen Blick auf Decker. »Ja, ich möchte, dass Ihre Frau sich mit der Vergangenheit meines Vaters befasst. Ich möchte alles darüber wissen. Ich muss alles darüber wissen. Aber das bedeutet nicht, dass man sie mir direkt unter die Nase hält.«
24
Normalerweise wählte sie ein paar Schnell - und Nebenstraßen, um auf die andere Seite der Hügelkette zu gelangen. Aber da sie heute nicht bei ihren Eltern vorbeischauen wollte, fuhr sie mit Höchstgeschwindigkeit den
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