Der Vampir, den ich liebte
»Sighisoara«, verkündete Dorin.
Ich beugte
mich vor und blickte begierig durch die Windschutzscheibe. Wir waren also
endlich angekommen in Lucius' Revier. Dies war der Ort, an dem er aufgewachsen und zu
dem Mann geworden war, den ich so liebte. »Fahren wir da durch?«
»Ja«, sagte
Dorin. »Was immer du wünschst.«
Mir war
aufgefallen, dass sich sein Verhalten mir gegenüber seit unserer Landung in
Bukarest fast unmerklich verändert hatte. Er war förmlicher geworden. Unterwürfiger.
Ich überlegte, ihm zu sagen, dass er mich nicht wie eine Prinzessin behandeln
musste, nur weil wir nicht länger in den Vereinigten Staaten waren. Doch dann
erkannte ich, dass es an der Zeit war, meinen Rang anzunehmen. Ich brauchte
diese Achtung. Ich musste Autorität ausstrahlen, wenn ich erreichen wollte,
was ich mir vorgenommen hatte. Ich saß in einem Fiat Panda, aber ich war
trotzdem eine Prinzessin. »Bitte, zeig mir den Ort«, drängte ich.
»Selbstverständlich.«
Dorin fuhr uns in das Herz der Stadt. Verzaubert betrachtete ich die steinernen
Bögen, die in gewundene Gassen führten, die engen, vollgestopften Läden, deren
Spezialitäten – Brote und Käse, Obst und Gemüse – bis auf die Gehsteige
hinausquollen, und den Uhrenturm, der noch aus dem 17. Jahrhundert stammte und
den Herzschlag der Stadt bildete. Er schlug die Stunde, als wir vorbeifuhren.
Sechs Uhr.
Jedes Mal, wenn
mein Blick auf etwas fiel, fragte ich mich: War Lucius durch diese Straße
gegangen? Hatte er in diesem Laden etwas gekauft? Auf das tiefe Läuten der Uhr
gelauscht und gemerkt, dass er irgendwohin musste? Hatte er sich mit seinem
hochgewachsenen Körper unter einem dieser steinernen Bögen geduckt, um zu einer
Verabredung in einer verborgenen Nebenstraße zu gelangen? Hier – hier würde
Lucius nicht fremd und deplatziert wirken, nicht einmal in seinem Samtmantel
und den maßgeschneiderten Hosen.
»Hast du
Hunger?«, fragte Dorin. »Wir könnten kurz anhalten, bevor die Läden
schließen.«
»Es ist
gerade mal sechs«, bemerkte ich. »Ist es hier üblich, so früh zu schließen?«
Dorin fuhr
an den Straßenrand. »Nein. Es ist nicht immer so. Aber die Menschen in dieser
Region leben seit vielen Generationen in der Gesellschaft von Vampiren. Sie passen
sich dem Takt der Clans an. Sie haben Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg
gehört und sie wissen, dass dann wieder durstige, wütende Vampire unterwegs
sein werden, auf der Suche nach Blut – und nach Rekruten für unsere untoten
Armeen ... Nach Einbruch der Dunkelheit gehen sie nur noch auf die Straße, wenn
es gar nicht anders geht.«
Ein Schauer
lief mir über den Rücken. Obwohl ich jetzt selbst ein Mitglied der Vampir-Clans
war, konnte ich die Ängste der Einheimischen nachempfinden. »Selbst gewöhnliche
Menschen sind also von den Spannungen betroffen ...«
»Allerdings«,
sagte Dorin. »Sie trauern um das Ende von fast zwei Jahrzehnten des Friedens.
Eine Zeit lang sah es so aus, als hätten sich auch die Beziehungen zwischen den
Menschen und den Vampiren entspannt. Das war zum großen Teil Lucius' Werk. Er
war ein guter Botschafter für uns. So charmant ... Selbst für die, die sich bei
dem Namen Vladescu bekreuzigten, war es unmöglich, ihn nicht zu mögen. Aber
jetzt wissen sie natürlich, dass er sich verändert hat ...«
Dorin
führte mich zu einem kleinen Restaurant, öffnete die Tür und ging voraus in
einen engen, schmalen Raum. Die Einrichtung wirkte schlicht – einige zerkratzte
alte Tische, die im Raum verteilt auf einem Holzboden standen –, aber der
Geruch war umwerfend. »Hier. Wir werden papanasi kaufen: in Zucker gerollte
Käseklöße. Eine einheimische Delikatesse.«
»Käse mit
Zucker?« Ich war skeptisch.
»Ich habe
euren veganen Geburtstagskuchen gegessen«, bemerkte Dorin. »Glaub mir, im
Vergleich dazu ist das hier ein Leckerbissen.«
Dem hatte
ich nichts entgegenzusetzen.
Wir gingen
zur Theke, wo sich der ältliche Besitzer mit einiger Mühe von einem Hocker
erhob und Dorin begrüßte. »Buna.«
»Buna.« Dorin nickte und hielt zwei Finger
hoch. »Doi papanasi.«
»Da,
da«, sagte der alte
Mann und schlurfte davon.
Dann
bemerkte er mich und blieb abrupt stehen; sein dunkles, wettergegerbtes Gesicht
wurde sichtlich blass. Er deutete mit zitternder Hand auf mich, während der
Blick seiner weit aufgerissenen Augen zu Dorin hinüberflog. »Ea e o fantoma
...«
»Nu e!« Dorin schüttelte den Kopf. »Kein
Geist!«
»Ea e Dragomir!«, beharrte
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