Der Vampir der mich liebte
entführen?«
Ich hatte mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Eines Tages würde ein Jäger die Überreste meines Bruders im Wald entdecken. Es sind doch meist Jäger oder Leute, die mit ihrem Hund spazieren gehen, oder? Ich spürte, wie mir der Boden unter den Füßen schwand, wie er sich einfach unter mir auflöste. Doch ich rief mich sogleich zurück ins Hier und Jetzt, weg von meinen Gefühlen, die ich mir erst an einem sichereren Ort wieder leisten konnte.
»Du musst von hier verschwinden«, sagte ich so leise wie möglich. »Du musst weg hier, sofort. «
»Dann schnappt sie sich meinen Sohn!«
»Das tut sie nicht, ich garantiere es dir.«
Holly schien trotz der Dunkelheit, die uns umgab, etwas in meinem Gesicht zu lesen. »Hoffentlich tötet ihr sie alle«, sagte sie so leidenschaftlich, wie ein Flüstern es zulässt. »Nur Parton, Chelsea und Jane nicht. Hallow erpresst sie, genau wie mich, und nur deshalb machen sie mit. Im Grunde sind sie ganz normale Wiccas, die ein ruhiges Leben führen möchten. Wir wollen niemandem Böses.«
»Wie sehen sie aus?«
»Parton ist etwa fünfundzwanzig, eher klein, er hat braunes Haar und ein Muttermal auf der Wange. Chelsea ist siebzehn, ihr Haar ist hellrot gefärbt. Und Jane, hm, na ja - Jane ist einfach eine alte Frau, du weißt schon. Weißes Haar, Hose, geblümte Bluse, Brille.« Meine Großmutter hätte Holly eine ordentliche Standpauke gehalten, weil sie hier alle alten Frauen über einen Kamm scherte. Aber sie war nicht mehr da, und die Zeit hatte ich jetzt wahrlich nicht.
»Warum hat Hallow nicht eine ihrer knallharten Hexen hier draußen Wache schieben lassen?«, fragte ich aus reiner Neugierde.
»Heute Nacht ist ein großes Ritual der Hexenkunst geplant. Ich kann kaum fassen, dass der Abwehrzauber auf dich nicht wirkt. Du musst immun sein oder so was«, flüsterte Holly, und mit einem kleinen Lachen fügte sie hinzu: »Außerdem wollte sich keine hier draußen den Arsch abfrieren.«
»Los jetzt, verschwinde«, sagte ich fast lautlos und half ihr auf. »Ganz egal, wo dein Auto steht, geh in nördliche Richtung.« Wusste sie, wo Norden war? Zur Sicherheit zeigte ich es ihr.
Holly lief davon. Ihre Nikes verursachten kaum einen Laut auf dem rissigen Gehweg, und ihr stumpfes schwarz gefärbtes Haar schien alles Licht der Straßenlaternen aufzusaugen, als sie darunter entlanglief. Der Geruch um das Gebäude, der Geruch der Magie, wurde noch intensiver. Ich überlegte, was jetzt zu tun war. Irgendwie musste ich dafür sorgen, dass die drei Wiccas in dem verfallenen Gebäude, in dem sie Hallow zwangsweise dienten, nicht zu Schaden kamen. Doch wie zum Teufel sollte ich das anstellen? Würde ich wenigstens eine unschuldige Hexe retten können?
In den nächsten sechzig Sekunden hatte ich eine ganze Sammlung halbgarer Ideen und fehlgeleiteter Einfälle, die alle in einer Sackgasse endeten.
Wenn ich hineinrannte und schrie: »Parton, Chelsea, Jane - raus hier!«, würde das nur den Hexenzirkel vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Und nicht wenige meiner Freunde - oder zumindest Verbündeten - würden deswegen sterben.
Wenn ich blieb und den Vampiren zu erzählen versuchte, dass drei der Leute in dem Gebäude unschuldig waren, würden sie mich (höchstwahrscheinlich) ignorieren. Und falls sie in einem Anfall von Großmut doch auf mich hörten, müssten sie erst mal alle Hexen retten, um dann die unschuldigen auszusortieren - was wiederum den bösen Hexen Zeit für einen Gegenschlag gäbe. Hexen brauchten schließlich keine sichtbaren Waffen.
Zu spät erkannte ich, dass ich Holly besser hier behalten und als mein Eintrittsbillett in das Gebäude genutzt hätte. Andererseits, eine verängstigte Mutter weiterer Gefahr auszusetzen war auch nicht gerade ein brillanter Plan.
Etwas Großes und Warmes presste sich an meine Seite. Augen und Zähne schimmerten im nächtlichen Licht der Stadt. Fast hätte ich aufgeschrien, erkannte aber noch rechtzeitig, dass der Wolf Alcide war. Er war sehr groß. Die silbrig glänzenden Haare um seine Augen ließen das übrige Fell noch viel dunkler erscheinen.
Ich legte einen Arm auf seinen Rücken. »Da drin sind drei, die nicht sterben dürfen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Da er ein Wolf war, wusste auch Alcide nicht, was zu tun war. Er sah mir ins Gesicht und jaulte ganz leise auf. Ich sollte längst wieder bei meinem Auto sein und hockte hier mitten in der Gefahrenzone herum. Überall in der Dunkelheit, die
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