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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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Antwort kristallisierte sich heraus. Das Mädchen lächelte und streifte sich die Haare aus dem Gesicht.
    «Ich habe dich hier schon gesehen», sagte Natalie. «In den letzten Wochen. Nur, dass du normalerweise bei Amerikanischer Geschichte sitzt.»
    Er spürte eine große Wärme in sich aufsteigen. Sie hatte ihn bemerkt.
    «Ich bin auf einer größeren Reise», sagte er. «In New York bin ich gestartet.»
    «Wow. Ich wollte immer schon mal nach New York. Ich komme aus San Antonio.»
    «Ich war eine Weile in Iowa», sagte er. «Aber ich mag Texas. Irgendwie kommt es mir wichtig vor. Wie ein Ort, an dem große Dinge geschehen.»
    «Das denken wir hier gerne», sagte sie. «Ich persönlich hätte lieber im Moskau der Jahrhundertwende gelebt, um Neunzehnhundert. Oder in Sankt Petersburg. Vor der Revolution. All diese gefühlvollen Russen, die langen Winter und die großen Hüte.»
    «Ihr habt hier auch große Hüte», sagte er.
    Sie lachte. «Das stimmt.»
    «Ich denke, es ist normal», sagte er, «dass man lieber von anderswo stammen würde. Eine andere Zeit verherrlicht. Ich glaube, jeder kennt das Gefühl, sein Leben wäre besser, wenn er an einem anderen Ort wäre.»
    Sie musterte ihn. «Was ist das für eine Reise?», fragte sie.
    «Wie meinst du das?»
    «Studierst du? Bist du von zu Hause abgehauen?»
    Er wusste nicht, wie er es beschreiben sollte. Was er ihr antworten sollte. Als sie ihn so ansah, fühlte er sich wie ein Bandmaß, das in seine Rolle zurückglitt und Zentimeter für Zentimeter verschwand.
    «Ich finde es interessant», sagte er, «dass sich das Wort ‹reisen› fast wie ‹reifen› anhört.» Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er das im Scherz gesagt hatte. Sie erwiderte sein Lächeln, und er konnte in ihrem Blick sehen, dass ein Funke übergesprungen war.
    «Ich heiße Natalie», sagte sie und hielt ihm die Hand hin.
    «Carter», sagte er. «Carter Allen Cash.»

 
     
    Der Frühling begann dieses Jahr früh im amerikanischen Westen. Wenigstens sagten das die Einheimischen in den Straßen und Läden von Colorado Springs. Sie schnalzten mit den Zungen und redeten über die globale Erwärmung. Einige nickten mit den Köpfen in Richtung Süden und sprachen davon, dass das alles «deren» Schuld sei. «Die», das waren die Militärs von NORAD , dem Nordamerikanischen Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando, das seinen Bunker tief ins Herz des Cheyenne Mountain vor den Toren der Stadt getrieben hatte. Wir waren im Januar nach Colorado Springs umgezogen, als der Winter die Stadt noch fest im Griff hatte. Die Ostküste hatten wir direkt nach Neujahr verlassen, mitten in der Nacht, hatten uns wie ein Eisberg von ihr gelöst und nach Westen treiben lassen. Nach unserem privilegierten Dasein im Speckgürtel New Yorks war es seltsam, sich mit einem Mal im kargen Steppenland des amerikanischen Westens wiederzufinden, umgeben von Cowboykultur und Einkaufs-Malls mit Riesenparkplätzen.
    Hier gab es keine Bagel-Shops mit dicken Sonntagszeitungen und selbst geräuchertem Fisch, keine kleinen Multikulti-Restaurants mit wunderbar dünner Pizza, Thai-Nudeln oder Szechuan-Take-aways, keine raffinierte französische Cuisine und keine süditalienische Regionalküche. Es hatte uns ins Land der Kettenrestaurants und Grillhütten verschlagen, wo in Käse erstickte panierte Koteletts als «italienisch» galten und «Chinesisches» mit tiefgefrorenen Erbsen und Möhren serviert wurde. Ein «großes» Getränk zu bestellen, bedeutete etwas ganz anderes als im Osten, was der Eimer Eistee bewies, den die Kellnerin mir am ersten Tag bei Applebee’s brachte. Diese Einzelheiten waren verblüffend, und wir hatten nicht einfach das Gefühl, in einen anderen Teil des Landes gezogen zu sein, sondern tatsächlich in ein anderes Land. Ein Land fettsüchtiger Frauen und Schnauzbart tragender Männer, billiger Autos, PS -starker Motorschlitten und Jetboote. Kurz, in ein Walmart-Land. Während der ersten Wochen machten sich die Jungen über alles lustig, was sie sahen, und ahmten den schleppenden, tiefen Singsang der Einheimischen nach. Ihre Mutter und ich schalten sie dafür. Früher hätte ich vielleicht ähnliche Vorurteile gezeigt, doch die Erfahrung des vergangenen Jahres hatte mich leiser werden lassen. So rückständig mir manche der Leute, die uns begegneten, auch vorkommen mochten, verrufene Mörder hatten sie nicht zu Kindern.
    Wir versuchten uns einzuleben, uns an das neue Haus, das ungewohnte Klima und ein neues Leben

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