Der Venuspakt
noch wenige Meter von ihr entfernt war, blickte sie tief in seine Augen.
Der Mann war Ende zwanzig und sah eigentlich ganz nett aus. Sie fragte
sich, ob sie wirklich von ihm trinken sollte, doch dann dachte sie, dass er si-
cherlich sauberer war, als der Mörder, den Kieran als ihr erstes Opfer auserko-
ren hatte.
Nuriya kniff ärgerlich die Augen zusammen. Es geht auch ohne Kieran! Inzwischen war der Mann fast nur noch eine Armeslänge entfernt, und sie
verlangte: «Komm zu mir!»
Sofort blieb er stehen und blickte sie verwirrt an. Ihr Befehl war vielleicht
ein wenig harsch gewesen. Sie wischte sich mit einer ungeduldigen Geste
über die feuchten Augen, bemühte sich um ein verführerisches Lächeln und
lockte mit heiserer Stimme: «Komm!» Der Mann gehorchte.
Die Vampirin streckte ihre Hand nach ihm aus und strich mit kühlen Fin-
gern über sein Gesicht. Die nachwachsenden Bartstoppeln kratzten auf ihrer
zarten Haut und erinnerten sie an Kierans Zärtlichkeiten.
Dieser Gedanke erregte Nuriya, und der Duft des pulsierenden Blutes ließ
sie alles um sich herum vergessen. Mit einem Fauchen war sie bei dem Mann,
legte ihre Hand in seinen Nacken, um ihn zu sich herunterzuziehen.
Der Strudel der Blutlust riss sie mit sich fort, und Nuriya vergrub ihre Zähne
tief in seinem Hals. Nur die warme Flüssigkeit auf ihrer Zunge und der heftige
Atem des Mannes in ihren Armen zählten noch. Sie zog ihn näher zu sich he-
ran und er antwortete mit einem Stöhnen, bevor er mit einer Hand ihre Taille
umfasste und mit der anderen sanft über ihr Haar strich. Eine gute Wahl. Er
roch ein wenig nach Rauch und Wein. Seine männliche Ausstrahlung war in-
tensiv und sehr verlockend, und nun gesellte sich auch noch der Duft sexuel-
ler Begierde hinzu. Dicht an ihn gepresst konnte sie seine Erregung deutlich
spüren.
Doch sie hatte genügend getrunken, der Puls verlangsamte sich bereits.
Enttäuscht ließ sie von ihm ab, leckte noch einmal zärtlich über die kleinen
Male, die ihre Zähne auf seinem Hals hinterlassen hatten, und strich dann, fast
bedauernd, mit der Hand über sein Gesicht. Sanft streifte sie seine Gedanken
und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er sich an nichts erinnern wür-
de, entließ Nuriya den jungen Mann in die Nacht.
Wehmütig beobachtete sie, wie ihr Opfer mit unsicherem Schritt den Weg
heim in seine normale, friedliche Welt fortsetzte, als wäre nichts geschehen.
Ihre Welt, erkannte sie in diesem Augenblick, war das nicht mehr.
Doch immerhin, ihre heutige Jagd war gelungen und sie bereit für eine Zu-
kunft ohne ihren mächtigen Beschützer.
Als sie sich schließlich zum Gehen wandte, stand ein Fremder vor ihr und
versperrte den Weg. Der Schreck machte sie ganz starr und ihre Gedanken
standen still. Nuriyas Blick folgte wie hypnotisiert der langen Knopfreihe ei-
nes Ledermantels hinauf und sie schaute schließlich in das aufregendste Ge-
sicht, das sie je erblickt hatte.
Kein Zweifel, Kieran war attraktiv und sein Anblick verursachte jedes Mal
Aufruhr unter den Schmetterlingen, die neuerdings in ihrem Bauch wohnten,
aber hier stand ein Engel.
Ein dunkler Engel der Finsternis allerdings. Die himmlischen Boten, die sie
kannte, sahen völlig anders aus. Die waren pausbäckig, mit blauen Augen und
rosigem Teint und natürlich unbedingt mit weißen, fedrigen Flügeln ausge-
stattet.
Dieser Engel hatte nichts von alledem. Sein Haar glänzte wie Ebenholz und
die Haut wirkte kühl wie feinster Marmor. Doch das edel geschnittene Gesicht
schien von Narben entstellt zu sein. Erst bei genauerem Hinsehen entdeck-
te Nuriya das komplizierte Muster einer eigentümlich lebendig wirkenden
Zeichnung, die sie umso mehr faszinierte, je länger sie darauf blickte. Nichts
Herzliches ging von dem Mann vor ihr aus, und dennoch empfand sie keine
Furcht.
«Du hast viel gelernt, in der kurzen Zeit, Nuriya!»
Irritiert blickte sie ihn an. «Woher kennst du meinen Namen?»
Anstatt ihr zu antworten, legte er seine Hand auf ihre Schulter und sagte:
«Es wird Zeit, dass du dein Schicksal annimmst.»
«Warum reden alle davon, dass ich eine Zukunft akzeptieren soll, von der
ich überhaupt nichts weiß?» Ärgerlich befreite Nuriya sich aus seinem Griff
und trat einen Schritt zurück.
«Wie, zum Teufel, sieht mein Schicksal aus?»
Da schien ein Beben durch seinen Körper zu gehen und erstaunt entdeckte
Nuriya einen Moment später, dass er lachte. Seine tiefe Stimme überrollte sie
wie
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