Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
feingliedrig, mit einem Buckel und vornübergekrümmt. Unter den mit Fettflecken übersäten beigefarbenen Hosenbeinen zeichneten sich knochige Knie ab, aus seinen viel zu großen Schuhen ragten spitze Knöchel, und aus dem ansonsten glatten Schädel sprossen Büschel feiner weißer Haare. Er sah aus wie die Figur aus einer Kindergeschichte. Wie aus einem Märchen.
Nell trat vom Fenster zurück und überprüfte noch einmal die Adresse in ihrem Notizbuch. Dort stand sie, von ihr eigenhändig in ihrer unleserlichen Handschrift eingetragen: Mr Snelgroves Antiquariat, Cecil Court, in einer Nebenstraße der Shaftesbury Avenue - Londons führender Experte in Bezug auf Märchenschreiber und alte Bücher allgemein. Vielleicht weiß er etwas über Eliza?
Die Bibliothekarinnen hatten ihr am Tag zuvor seinen Namen
und die Adresse gegeben. Sie konnten zwar nicht mit Informationen über Eliza Makepeace aufwarten, die Nell nicht bereits selbst herausgefunden hatte, aber sie nannten ihr jemanden, der ihr eventuell bei ihrer Suche würde weiterhelfen können, nämlich besagter Mr Snelgrove. Er sei nicht gerade der umgänglichste Zeitgenosse, so viel stehe fest, aber er wisse mehr über alte Bücher als sonst jemand in London. Er sei steinalt, hatte eine der jüngeren Bibliothekarinnen gescherzt, und wahrscheinlich habe er das Märchenbuch sofort gelesen, nachdem es damals gerade frisch aus der Druckpresse gekommen war.
Als eine kühle Brise über Nells unbedeckten Hals strich, zog sie sich ihre Strickjacke enger um die Schultern. Entschlossen atmete sie tief ein und drückte die Eingangstür auf.
Eine Messingglocke bimmelte an der Tür, woraufhin der alte Mann sich zu ihr umdrehte. Das Licht fiel auf dicke Brillengläser, die wie zwei runde Spiegel aufleuchteten, und auf unfassbar riesige Ohren, aus denen weiße Haarbüschel sprossen.
Er neigte den Kopf, und Nells erster Eindruck war, dass er sich verbeugte - ein Überbleibsel von Galanterie aus vergangenen Zeiten vermutlich. Als jedoch über den Rändern seiner Brillengläser blasse glasige Augen erschienen, wurde ihr klar, dass er einfach nur versuchte, sie besser zu sehen.
»Mr Snelgrove?«
»Ja«, erwiderte er im Tonfall eines reizbaren Schulleiters. »Der bin ich. Treten Sie ein, Sie lassen nur die schlechte Luft rein.«
Nell machte einen Schritt vorwärts und merkte, wie sich die Tür hinter ihr schloss, gefolgt von einem Luftzug, der für einen kurzen Moment die warme, abgestandene Luft bewegte.
»Name«, sagte der Mann.
»Andrews. Nell Andrews.«
Er kniff die hinter den Gläsern riesig wirkenden Augen halb zu. »Name«, wiederholte er und betonte seine Worte bedächtig, »des Buchs, nach dem Sie suchen.«
»Oh, natürlich.« Nell warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Obwohl ich eigentlich nicht nach einem Buch suche.«
Erneut blinzelte Mr Snelgrove ganz langsam, eine Parodie der Geduld.
Er war ihrer schon jetzt überdrüssig, stellte Nell fest. Das kam für sie völlig unerwartet, war sie es doch normalerweise, die die Rolle der fürchterlich Gelangweilten spielte. Vor lauter Verblüffung begann sie verlegen zu stammeln: »D-das heißt«, sie holte Luft, um ihr schwindendes Selbstvertrauen wiederzugewinnen, »ich besitze das fragliche Buch bereits.«
Mr Snelgrove schnaubte kurz und vernehmlich, sodass sich seine riesigen Nüstern zusammenzogen.
»Demnach gehe ich davon aus, Madam, dass Sie, da Sie das fragliche Buch bereits besitzen, meine untertänigsten Dienste nicht weiter benötigen.« Ein Nicken. »Guten Tag.«
Damit schlurfte er davon und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem vollgestopften Bücherregal neben der Treppe zu.
Sie war entlassen. Nell öffnete den Mund, machte ihn dann wieder zu.
Drehte sich um und wollte gehen. Blieb stehen.
Nein. Sie hatte eine weite Reise auf sich genommen, um ein Rätsel zu entwirren, ihr Rätsel, und dieser Mann war ihre beste Chance, ein wenig Licht auf Eliza Makepeace zu werfen und auf die Frage, warum sie Nell im Jahr 1913 nach Australien begleitet hatte.
Nell richtete sich zu voller Größe auf, schritt über den Dielenboden zu Mr Snelgrove und blieb neben ihm stehen. Sie räusperte sich vernehmlich und wartete ab.
Er ließ nicht erkennen, ob er sie bemerkt hatte, und ordnete weiter seine Bücher ins Regal. »Sie sind noch da.« Eine Feststellung.
»Ja«, erwiderte Nell mit Nachdruck. »Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um Ihnen etwas zu zeigen, und ich habe nicht vor wegzugehen, ehe ich das getan
Weitere Kostenlose Bücher