Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Ornamente ich in diesem spärlichen Morgenlicht nicht erkennen konnte, wölbte sich eine spitz zulaufende Kuppel, deren Form an eine Brust erinnerte. Die kleine Statue einer bewaffneten Frau stand auf der Spitze.
Das erschien mir sehr passend.
Drinnen zeigten die Bodenfliesen ein Mosaik von Vögeln, die um eine stilisierte Sonne kreisten. Die Tanzmistress und Federo blieben zurück. Ich kniete nieder, obgleich meine Knie selbst noch durch den Stoff des Mantels, den mir Federo geborgt hatte, von der Kälte der Fliesen schmerzten. Ich stellte die schwarze Kerze auf das geschlossene linke Auge der Sonne und die weiße auf das weit offene rechte, das mich mit einer Spur Überraschung anzublicken schien.
Ich hatte keinerlei Vorstellung, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass dieser Abschnitt meines Lebens mit einem Begräbnis begonnen – dem meiner Großmutter – und mit einem Tod geendet hatte – dem von Mistress Tirelle. Es galt, einen Ausgleich zu finden und den Toten Respekt zu erweisen.
Wie mir bereits bewusst geworden war, hatte mich diese unbarmherzigste meiner Mistresses auf ihre seltsame Weise wirklich geliebt.
Der Schwefelkopf des Streichholzes entzündete sich beim ersten Versuch. Das hielt ich für ein glückliches Zeichen. Als die schwarze Kerze brannte, schaukelte ich vor und zurück und presste die Arme gegen die Kälte um mich.
»Du hast mich mit leidvoller Strenge behandelt, wie ich sie einem Straßenköter nicht angedeihen lassen würde«, sagte ich der Flamme – und ihrer Seele, wenn sie mich irgendwie hören konnte. »Deine Sünde war es, dass du dem Faktor zu ergeben gewesen bist. Aber liegt es nicht an uns, zu erkennen, was richtig und falsch ist, ganz gleich, aus wessen Mund es kommt?«
Ich hielt das zweite Streichholz in die Flamme der schwarzen Kerze. Es loderte blendend auf, und ich hielt es an den Docht der weißen Kerze.
»Du hast mir Essen und Kleidung gegeben und mir mehr beigebracht, als die meisten Menschen je lernen«, sagte ich ihr. »Du hast mein Leben auf ein Ziel gelenkt, ob ich das wollte oder nicht.«
Ich entfaltete das Papier, das ich auf dem Dachboden von Federo bekommen hatte. Ich strich es am Mosaikboden glatt, so gut ich konnte. Mit den angekohlten Streichholzresten zeichnete ich einen Ochsen. Ausdauer, aber das hätte außer mir wohl niemand in dem Bild erkannt. Es war einfach genug: die gekrümmten Hörner des Alephzeichens, die mächtigen Schultern, die schmalen Fesseln und die wuchtigen Vorderbeine für die Balance der Komposition.
Ich rollte das Papier zusammen und hielt es in die Flamme der weißen Kerze. Möge diese Opfergabe im weißen Licht der Hoffnungen und Träume verbrennen. »Möge dich Ausdauer auf dem Weg tragen, wie er einst meine Großmutter trug. Seine Geduld ist tiefer verwurzelt als meine.« Mit einem zitternden Atemzug fügte ich hinzu: »Es tut mir leid, dass ich dir das nahm, was dir zu nehmen ich kein Recht hatte.«
Als das Papier so weit verbrannt war, dass meine Finger angesengt wurden, ließ ich es zu Boden fallen. Es kringelte sich noch einen Augenblick in der Hitze und wurde zu Asche. Ein Morgenwind strich durch das Bauwerk. Er löschte meine beiden Kerzen und wehte die Asche fort.
Ihr Totengeist antwortete nicht. Ich hatte nichts erwartet. Es war allein mein unglücklicher Abschied.
Ich erhob mich und legte Federos Mantel ab. »Wo ist meine Seide?«, fragte ich in meiner Muttersprache. Er und die Tanzmistress kleideten mich wie einst die Knappen ihre Herren in den alten höfischen Turniergeschichten.
Ich schritt die Chaussee der Krönung zwischen den beiden Reihen der herbstlich nackten Pfirsichbäume entlang. Meine Glöckchenseide hüllte mich ein. Darunter trug ich eine dunkle Strumpfhose und ein wadenlanges Hemd, als hätte ich vor, in einem Maskenspiel zu tanzen. Ich hatte keine Waffe und schritt erhobenen Hauptes.
Seht mich an, dachte ich. Hier kommt euer Kopfgeld. Der Smaragd des Faktors.
Viele Menschen waren auf der Straße. Wagen und Kutschen ratterten vorüber, darunter auch einige der großen mit Schwungrädern und endlosen Ziegenlederlochstreifen betriebenen Zahnradfuhrwerke. Händler und Diener eilten im Auftrag der großen Häuser entlang der Straße zum Herzogspalast geschäftig an mir vorüber.
Es war fast zu viel. Ich hatte so viele Menschen zuletzt bei meiner Ankunft im Hafen vor neun Jahren gesehen. Zu viele Gesichter, alle irgendwie vertraut, alle fremd wie Statuen in der Dunkelheit. Ich beobachtete sie mit
Weitere Kostenlose Bücher