Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
sollte die Aufzeichnung meines Lebens sein, die Zählung meiner Tage. Jedes Glöckchen sollte eine Bedeutung haben, dieses für den Tag, an dem ich meinen Gemahl fand, jenes für den Tag, an dem ich das erste meiner Kinder gebar.
Schließlich dachte ich, dass ich Angst um meine Seele hatte.
Ich blickte auf, und die schrägen Augen der Tanzmistress glänzten im Licht unserer kleinen Lampe. Sie wartete darauf, dass ich sprach.
»Haben die Leute deines Volkes eine Seele?«, fragte ich sie.
Vielleicht würde mir ihre Antwort mehr über meine verraten.
Sie dachte eine Weile nach, ohne den Blick abzuwenden. Federo war mit seiner Nadel beschäftigt. Er war damit zufrieden, zuzuhören.
Schließlich sagte die Tanzmistress: »Wenn ein Kind geboren wird, binden wir die Seele mit Blumen und Essen an uns. Die Gemeinschaft feiert, um an der Seele teilzuhaben. Auf diese Weise geht sie durch einen Unfall oder eine Krankheit nicht verloren, sondern lebt in den Herzen vieler weiter.«
Neugier gewann die Oberhand über meine Furcht und meinen Zorn. »Und eure Namen?«
Sie lächelte. »Die sind nur für unsere Herzen bestimmt.« Sie nahm eine Hand voll Seide und schüttelte sie. Hunderte von Glöckchen klingelten, sofern sie nicht in den Falten des Stoffes verborgen waren. »Hier ist deine Seele, Green. Hab keine Angst um sie. Die meisten Menschen finden ihre nie. Deine ist so wirklich wie deine Hände.«
Der Klang der Glöckchen weckte die Erinnerung an die Begräbnisprozession meiner Großmutter. Wir waren miteinander verbunden durch meinen namenlosen Vater und seine namenlose Hütte in einem namenlosen Ort auf einer Straße in Selistan. Ich wusste seinen Namen nicht, wusste auch nicht, wie er mich genannt hatte. Federo hatte nicht danach gefragt, denn für ihn war ich nur ein Mädchen.
In den langen Jahren im Faktorhaus hatte ich zu viel vergessen. Ich beschloss, nach Selistan zurückzukehren und mir mein Leben zurückzuholen, sofern ich die kommenden Tage überleben sollte.
Wir wurden zwei Tage später am Abend mit der Seide fertig. Dieses Mal waren beide bei mir geblieben. Wir nähten zu dritt, um rascher fertig zu werden. Die Seide war übersät mit den Blutstropfen zerstochener Finger, und meine eigenen Hände waren unerfreulich steif, doch wir hatten es geschafft.
»Wenn du noch immer mit dem Plan einverstanden bist«, sagte Federo, »führen wir dich vor Anbruch der Dämmerung aus dem Lagerhaus. Sobald es hell geworden und die Stadt erwacht ist, spazierst du offen durch die Straßen. Wenn dich dann die herzoglichen Wachen gefangen nehmen, wird es nicht ohne Zeugen sein.«
»Vor Zeugen verhaftet zu werden ist gesünder«, bemerkte die Tanzmistress.
Ich drückte meine Seide an mich und versank in ihrem Klingeln. Wir kannten die wirkliche Zahl meiner Tage nicht, so hatten wir uns auf viertausendvierhundert für zwölf Jahre geeinigt. Das Geräusch war wie fließendes Wasser auf einem metallenen Dach. Meine Vergangenheit war mir ganz nah in diesem Augenblick.
»Zeigt mir, was ich wissen muss.«
Die Tanzmistress schrieb bestimmte Worte in den Staub am Boden. Ich sah sie mir genau an, während die Glöckchen im Rhythmus meines Atems leise klirrten. Für sich genommen waren die Worte einfach genug; eine Zwiesprache mit den Mächten des Landes. Ich wusste nicht, ob ihre Kraft von der Absicht des Sprechers herrührte, oder ob sie im besonderen Zusammenwirken von Klang und Bedeutung schlummerte. In jedem Fall waren dies die Worte, oder sollten es sein, welche die magischen Bande zwischen dem Herzog, seinem Leben und seinem Thron auflösten.
Federo las sie zusammen mit mir und nickte dann. Die Tanzmistress löschte die Worte aus. »Hast du noch Fragen?«
Ich blickte ihn an. »›Geteilt‹«, fragte ich. »Das Wort kenne ich nicht. Auch nicht den Begriff für ›gehortet‹ in meiner Sprache. Alles andere ist einfach genug.«
»Teilen bedeutet«, sagte er in der selistanischen Sprache, die Seliu genannt wurde, »etwas zu geben, ohne dafür etwas zu nehmen.«
»Das ist gut genug«, sagte die Tanzmistress.
»Und gehortet …« Er dachte eine Weile nach und schlug dann ein Wort in Seliu vor. »Es bedeutet, zu viel anzuhäufen. Zum Beispiel mehr zu ernten, als man braucht. Mehr aus Dummheit, denn aus Gier, glaube ich.«
»Scheint ein gutes Wort zu sein«, sagte ich ernst.
Die Tanzmistress nickte. »Hast du dir die Worte alle gemerkt?«
»Ja.«
»Gut.« Federos Stimme zitterte. Er wirkte fast krank vor
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