Der verborgene Stern
wäre er nicht Privatdetektiv geworden. Er besaß ein wunderschönes Lächeln und aufmerksame Augen. Zudem hatte er starke Arme und, da war sie sich sicher, einen ebenso starken Charakter.
Und Grübchen, bei deren Anblick sie das starke Bedürfnis empfand, sie zu berühren.
Sein Schlafzimmer. Auf der Unterlippe kauend, verharrte sie auf der Schwelle. Es war unhöflich, hier herumzuschnüffeln. Sie fragte sich, ob sie ein unhöflicher Mensch war, der achtlos in die Privatsphäre anderer Leute eindrang. Aber sie brauchte etwas, irgendetwas, um all diese Leerstellen in ihrem Kopf zu füllen. Und außerdem hatte er die Tür offen stehen lassen.
Sie trat ein.
Es war ein herrlich großer Raum, in dem sie alles an ihn erinnerte. Jeans und Socken lagen achtlos auf dem Boden. Sie konnte sich gerade noch daran hindern, sie aufzuheben und in den Wäschekorb zu werfen. Kleingeld und ein paar Hemdknöpfe lagen auf dem Nachttisch verstreut. Sie entdeckte eine wunderschöne antike Kommode, in deren Schubladen zweifellos alle möglichen Hinweise auf ihn verborgen waren.
Sie zog nicht an den Messinggriffen, hätte es aber gerne getan.
Das Bett war riesig und ungemacht. Sie konnte nicht widerstehen, mit den Fingerspitzen über die zerwühlte dunkelblaue Bettwäsche zu fahren. Wahrscheinlich roch sie nach ihm – nach diesem schwachen, minzeartigen Duft.
Als sie sich bei dem Gedanken ertappte, ob er wohl nackt schlief, schoss Röte in ihre Wangen. Sie wandte sich ab.
Eine Seite des Zimmers zierte ein hübscher Backsteinkamin mit einem Sims aus Kiefernholz, auf dem eine rundliche Messingkuh stand und etwas dümmlich grinste. In ein in die Wand eingelassenes Regal waren nachlässig Bücher gestopft. Bailey studierte die Titel sorgfältig und fragte sich dabei, welche davon sie vielleicht gelesen hatte. Er schien eine Vorliebe für Krimis und Bücher über wahre Verbrechen zu haben. Die Namen sagten ihr etwas, woraufhin sie sich schon viel besser fühlte.
Ohne nachzudenken, nahm sie eine benutzte Kaffeetasse und eine leere Bierflasche und trug sie hinunter ins Erdgeschoss. Als sie vor ein paar Stunden angekommen war, hatte sie dem Haus nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. In ihrem Kopf war alles so durcheinander und unklar gewesen. Doch jetzt betrachtete sie den schlichten, eleganten Stil, die großen, schönen Fenster und die glänzend polierten Antiquitäten.
Der Kontrast zwischen diesem eleganten Haus und dem heruntergekommenen Büro verwunderte sie. In der Küche spülte sie die Tasse ab, warf die leere Flasche in die Recyclingtonne und beschloss dann, sich noch ein wenig umzusehen.
Sie brauchte nicht länger als zehn Minuten, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass dieser Mann stinkreich sein musste. Das Haus war voller wertvoller Möbelstücke und Gemälde. Sie konnte zwar das Einhorn auf ihrem Hintern nicht recht einordnen, den Wert eines Sekretärs mit Intarsien aus Kirschholz erkannte sie aber durchaus. Warum das so war, hätte sie allerdings nicht sagen können.
Sie bemerkte Waterford-Vasen, georgianisches Silber, kostbares Limoges-Porzellan. Und sie bezweifelte, dass es sich bei dem Turner-Gemälde im Wohnzimmer um eine Kopie handelte.
Sie spähte aus dem Fenster. Ein gepflegter Rasen, majestätische alte Bäume, in voller Blüte stehende Rosen. Warum arbeitete ein Mann, der sich ein solches Ambiente leisten konnte, in einem schäbigen alten Bürogebäude?
Plötzlich musste sie lächeln. Wie es schien, war Cade Parris genauso rätselhaft wie sie. Und das war ungemein tröstlich.
Sie lief zurück in die Küche. Vielleicht konnte sie sich ja irgendwie nützlich machen. Einen Tee oder irgendetwas fürs Mittagessen zubereiten zum Beispiel. Als das Telefon klingelte, schrak sie zusammen. Der automatische Anrufbeantworter sprang an und ließ Cades Stimme durchs Haus schallen. „Hier ist der Anschluss 555-2396. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe zurück.“
„Cade, langsam wird es ärgerlich!“ Die Stimme der Frau klang angespannt. „Ich habe heute Morgen ein halbes Dutzend Nachrichten in deinem Büro hinterlassen. Du könntest wenigstens so höflich sein und zurückrufen. Ich bezweifle ernsthaft, dass du mit deinen sogenannten Klienten zu beschäftigt bist, um mit deiner eigenen Mutter zu sprechen.“ Sie gab einen langen, gequälten Seufzer von sich. „Ich weiß sehr gut, dass du Pamela wegen heute Abend noch nicht angerufen hast. Damit bringst du mich in eine sehr unangenehme Situation, Cade, hörst
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