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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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flocht dabei ihrer Puppe Pamela die Haare.
    »Ich wusste gar nicht, dass Tilly Burke Noras Großmutter ist«, sagte Charlotte beiläufig, nachdem sie Schneewittchen beendet hatte, und klappte das Buch zu.
    Emilys Finger bewegten sich geschickt, und sie antwortete erst, als sie ein hübsches Band in Pamelas Haare gebunden hatte. »Sie ist wie aus einem Märchen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Sie erinnert mich an Schneewittchen. Tilly Burke ist wie die böse Stiefmutter. Eine böse Großmutter.«
    Charlotte sah das Mädchen vorsichtig von der Seite an. »Was hat sie denn Schlimmes getan?«
    »Sie hat mir Angst gemacht. Sie erzählt komische Dinge. Das haben Sie doch gehört, als wir sie in der Teestube getroffen haben.«
    »Ich glaube, sie ist geisteskrank, nicht böse.«
    »Das ist das Gleiche«, erwiderte Emily unerwartet heftig. »Wenn mir jemand Angst macht, finde ich ihn böse.«
    »Das sollten wir Nora gegenüber besser nicht erwähnen; es könnte sie verletzen.«
    Emily dachte nach. »Sie spricht ohnehin nie mehr von ihr. Nicht seit …« Sie verstummte.
    Charlotte stand auf. »Es ist Zeit zum Schlafengehen. Setz Pamela doch hier aufs Regal.«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf, trat mit der Puppe ans Fenster und lehnte sie aufrecht gegen die Scheibe. Dann band sie sich die Haare lose zu einem Zopf, streifte die Pantoffeln ab und kletterte ins Bett. Als sie Charlottes Blick bemerkte, sagte sie: »Sie sieht gern in den Garten.«
    »Gut, dann lassen wir ihr das Vergnügen.« Charlotte strich Emily übers Haar und verließ das Zimmer. Im Flur blieb sie nachdenklich stehen und klopfte dann an die Nebentür.
    »Herein.«
    Sie fand Nora über einer Strickarbeit. »Ja, Miss?«
    »Emily ist jetzt im Bett. Du kannst heute Nacht in deinem Zimmer schlafen. Mr. Ashdown und ich werden aufpassen, dass nichts passiert.«
    Die Enttäuschung in Noras Gesicht war nicht zu übersehen. Das Kindermädchen schluckte, raffte die Wolle zusammen und stand auf. »Wie Sie wünschen, Miss.«
    Dann eilte sie an Charlotte vorbei, wobei sie sich den Arm am Türrahmen stieß, und lief nach oben. Seufzend wandte sich Charlotte um und begab sich ins Schulzimmer, wo sie bleiben wollte, bis Mr. Ashdown sie ablöste.
    Tom war froh, als das Abendessen beendet war und er sich zurückziehen konnte. Zu seinem Bedauern war Miss Pauly nicht zugegen gewesen. Er war angeregte Unterhaltungen mit seinen Freunden in London und Oxford gewöhnt und fand Sir Andrews steife Haltung anstrengend. Zum Glück waren sie auf das Thema Botanik verfallen, bei dem der Abgeordnete förmlich aufgeblüht war und einen ausgiebigen Vortrag über die Flora der näheren Umgebung gehalten hatte. Tom hatte pflichtschuldig zugehört, obwohl Pflanzen nicht gerade sein Steckenpferd waren; doch alles war besser als das unbehagliche Schweigen.
    Nun aber konnte er sich dem eigentlichen Zweck seines Kommens zuwenden. Er hatte mit Miss Pauly vereinbart, dass Nora in ihr eigenes Zimmer zurückkehren würde, damit er im Raum neben Emilys Schlafzimmer Wache halten konnte. Er würde hören, wenn etwas geschah, und konnte gleichzeitig den Garten im Auge behalten.
    Er klopfte mit einer Zeitschrift unter dem Arm an die Tür des Schulzimmers und trat ein. Miss Pauly schaute von ihrem Buch auf.
    »Guten Abend, Mr. Ashdown. Emily ist ganz ruhig. Allerdings …« Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht, als sie von der Puppe am Fenster berichtete. »Vielleicht sehe ich Gespenster, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, aber es war sonderbar. Als müsste die Puppe dort Wache halten …«
    Er legte die Zeitschrift auf einen Tisch und lehnte sich an die Tür. »Keine Sorge, ich passe auf. Ich habe das Hausmädchen um eine Kanne Kaffee gebeten und eine Lektüre mitgebracht, mit der ich mir die Zeit vertreiben kann.«
    Charlotte warf einen Blick auf das Heft. »Lippincott’s Magazine?«
    » Ja, vom letzten Juli. Darin gibt es einen skandalösen Roman von Oscar Wilde. Zum Glück habe ich noch ein Exemplar erwischt, bevor sie aus den Bahnhofsbuchhandlungen entfernt wurden.«
    »Entfernt?«
    »Wegen Anstößigkeit«, erwiderte er unbekümmert. »Dabei wurde das Werk schon vor der Veröffentlichung gründlich zensiert.«
    Charlotte erinnerte sich an seine Bemerkung über die Transvestiten und Sir Andrews moralische Entrüstung und lächelte bei sich.
    »Verzeihung, falls ich Ihnen zu nahegetreten bin.«
    »Keine Sorge, ich bin nicht so empfindlich, wie mein Arbeitgeber zu glauben scheint«, erwiderte sie belustigt.

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