Der verbotene Fluss
sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich erwähnte bereits, dass meine Tochter früher häufig krank war. Dies und die Tatsache, dass sie ihre Mutter verloren hat, sind eine schwere Belastung für ein Kind. Da kann es durchaus einmal vorkommen, dass sie schlecht träumt.«
Charlotte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es war auch keineswegs als Vorwurf gemeint. Mir erscheint es nur nützlich, wenn ich möglichst viel über meine Schülerin weiß, damit ich Rücksicht auf mögliche Schwierigkeiten nehmen kann.«
»Und mir erscheint es nützlich, wenn ein Kind immer aufmerksam und fleißig ist und nicht dazu ermutigt wird, kleine Schwächen als Ausrede für mangelnden Einsatz zu nutzen.«
Sie sog scharf die Luft ein und schaute auf ihren Teller. Ihr blieben nur Sekunden, um sich zu entscheiden. Wenn sie offen sagte, was sie dachte, wäre ihre Zeit im Hause Clayworth vermutlich schon beendet. War es das wert? Was würde Emily denken, wenn ihre neue Gouvernante nach nur einem Tag wieder entlassen wurde? Dieses Risiko durfte Charlotte nicht eingehen. Wie aber sollte sie auf die kalte Art dieses Mannes reagieren?
Sie schluckte und atmete durch. »Es liegt mir fern, Ausreden zu dulden. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Schlaflosigkeit und unruhige Nächte das Wohlbefinden beeinträchtigen. Nur deshalb habe ich gefragt. Es wird die Erwartungen, die ich in Ihre Tochter setze, keinesfalls mindern.«
Er schien mit der Antwort zufrieden zu sein, denn er nickte knapp und erhob sich, um in die Bibliothek zu gehen.
Charlotte stand ebenfalls auf, wartete aber, bis er den Raum verlassen hatte. Die Vorstellung, dass er sich verpflichtet gefühlt hätte, ihr die Tür aufzuhalten, behagte ihr nicht.
Sie lag an diesem Abend noch lange wach. Die vielen neuen Eindrücke und die Spannungen, die sie zwischen den Menschen in diesem Haus spürte, hatten sie innerlich aufgewühlt. Auch das sonderbare Verhalten von Wilkins, der ihr auf der Hinfahrt so freundlich begegnet war, verwirrte sie.
Sie setzte sich auf, machte Licht und griff nach einem Buch, um sich abzulenken, doch nach wenigen Seiten stahlen sich andere Worte und Stimmen in ihren Kopf und vertrieben das wenige, das sie von der Lektüre behalten hatte. Sie klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn sie schreckte aus einem bizarren Traum hoch. Nach dem Aufwachen konnte sie sich nur an ein Fragment erinnern: Ein Mann, der wie Sir Andrew aussah, stand in einem Arbeitszimmer und beugte sich über ein Mikroskop, redete von Blattadern und Chlorophyll und Sonnenlicht, doch als er sich umdrehte, blickte ihr ein anderes Gesicht entgegen. Ein Gesicht, das sie nie wiedersehen wollte.
Charlotte lag schwer atmend da und versuchte, sich an den Rest zu erinnern, doch wie es bei Träumen häufig vorkommt, blieb ihr nur diese eine Szene im Gedächtnis, und selbst die verblasste schnell zu einer absurden Skizze.
6
Boars Hill bei Oxford, Januar 1 88 9
Die drei Spaziergänger waren in warme Mäntel, Schals und Mützen gehüllt, doch die Kälte hinderte sie nicht daran, auf der bereiften Wiese stehen zu bleiben und den atemberaubenden Blick auf die umliegende Landschaft zu genießen. In der Ferne erhob sich Oxford in der klaren Winterluft wie eine verzauberte Insel, die aus den weiß verschneiten Feldern emporstieg.
»Die träumenden Türme – ihre Schönheit behauptet sich zu jeder Jahreszeit«, sagte der schlanke, dunkelhaarige Mann und deutete auf die Silhouette aus goldenem Sandstein. »Hier ist die Zeit stehen geblieben. Als hätte sich seit unseren Studententagen nichts verändert.«
Sein Begleiter lachte. »Das glaubst du nur, Tom. Der Fortschritt macht nirgendwo Halt, auch wenn er hinter alten Mauern stattfindet.«
»Aber du hast recht, es ist wunderschön, vor allem, wenn man es aus der Ferne betrachtet«, sagte die Frau und schlug die Hände aneinander. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet.
Sie gingen langsam weiter, und das gefrorene Gras knirschte unter ihren Füßen. Sie waren bis Boars Hill gefahren und auf den Hügel gestiegen, um trotz der Kälte die berühmte Aussicht auf die Stadt zu genießen.
»Im Sommer könnten wir hier ein Picknick machen«, sagte die Frau und hakte sich bei Tom unter. »Ich bin so froh, dass du hergekommen bist! Es muss schwer sein, in London seinen Seelenfrieden zu finden.« Sie sah ihn vorsichtig an.
»Dazu gehört mehr als die passende Umgebung, aber es stimmt, in
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