Der verbotene Fluss
gelten. John möchte nicht, dass ich sie einmal dorthin begleite …« Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich halte nichts davon, diesen Menschen in seiner verwerflichen Tätigkeit zu bestärken.«
»Aber ich könnte mir genau ansehen, was er tut, weil ich objektiv bin und mich nicht von seinen Tricks beeindrucken lasse«, erwiderte Sarah, doch ihr Mann schüttelte den Kopf.
Tom bemerkte, dass sich die Stimmung zwischen den Eheleuten veränderte, dass aus der Meinungsverschiedenheit ein echter Streit zu werden drohte. Deshalb sagte er, ohne lange zu überlegen: »Lasst mich hingehen.«
Sarah und John schauten ihn verblüfft an.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Sarah. »Du würdest Emma und uns damit sehr helfen. Ich wäre dir so dankbar.«
»Ich würde es allerdings vorziehen, mir den Mann anzusehen, ohne dass deine Schwester dabei ist. Ich werde mir eine Meinung über ihn bilden, und wenn ich ihn für einen Betrüger halte, könnt ihr mich ihr gegenüber gern als Zeugen anführen.«
Unvermittelt durchzuckte ihn ein unangenehmer Gedanke. Wenn der Spiritist nun versuchte, ihn in die Sitzung einzubeziehen und seine eigenen Geister heraufzubeschwören? Tom biss sich auf die Lippe. War er zu voreilig gewesen mit seinem Angebot? Doch nun konnte er nicht mehr zurück.
»Tom, was ist los? Hast du es dir anders überlegt?«, fragte Sarah mit besorgter Stimme.
»Nein, nein. Ich dachte nur … Sarah, was genau macht Belvoir? Beschwört er die Geister Verstorbener herauf und überbringt Botschaften für die Hinterbliebenen, oder führt er noch andere Dinge vor?«
»Ach, er kann alles Mögliche«, erwiderte sie belustigt. »Tische und Stühle schweben und Geister auf Schiefertafeln schreiben lassen.« Dann schien sie zu begreifen. »Vielleicht solltest du dir tatsächlich erst einmal das Tafelschreiben ansehen.« Sie warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu.
»Ach so, natürlich. Tom, wir wären dir sehr verbunden, wenn du das übernehmen würdest. Solltest du ihn für einen Betrüger halten, könntest du in der Zeitung darüber berichten und ihn auf diese Weise bloßstellen. Dann wäre vielleicht auch Emma überzeugt.«
»Ja«, stimmte Sarah zu, »das ist eine gute Idee.«
Hoffentlich habt ihr recht, dachte er. Der Blick über die verschneiten Wiesen hatte auf einmal seinen Zauber verloren.
7
September 1890, Chalk Hill
Etwas war anders an diesem Morgen. Als Charlotte das Schulzimmer betrat – sie hatte noch ein Buch aus dem Turm geholt –, saß Emily schon in ihrer Bank. Charlotte schaute sich prüfend um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Also ließ sie sich an ihrem Pult nieder und begann mit einem englischen Diktat.
Emily hatte sich über ihr Heft gebeugt, die Augen konzentriert auf das Blatt gerichtet, ohne auch nur einmal aufzusehen.
Charlotte stand auf und ging beim Diktieren umher, warf einen Blick in den Garten, der in den vergangenen Tagen ein Kleid aus warmen Braun- und Orangetönen übergestreift hatte. Als ein Windstoß durch die Äste fuhr, schneite es welkes Laub. Sie drehte sich um und bemerkte vier helle Flecken auf dem Boden, ein Stück hinter den Füßen der Schulbank.
Charlotte trat näher. Emily schaute hoch, sah ihren Blick und sah sofort wieder in ihr Heft.
Wäre diese Bewegung nicht gewesen, hätte Charlotte an einen Zufall geglaubt, eine Unachtsamkeit des Hausmädchens. So aber konnte es nur eins bedeuten: Ihre Schülerin hatte die Bank näher an ihren eigenen Tisch geschoben.
Sie spürte, dass Emily ihr damit ein Zeichen geben wollte. Suchte sie ihre Nähe? Sie hatte einen ersten Eindruck von dem Mädchen gewonnen, dessen Verhalten ihr so manches Rätsel aufgab.
»Fräulein Pauly?« Emily sah sie fragend an, worauf Charlotte bemerkte, dass sie im Diktieren innegehalten hatte.
»Verzeihung, ich war gerade in Gedanken. ›Er begab sich zu der Tür, die in das angrenzende Gemach führte.‹«
»Was ist ein Gemach?«
»Das ist ein vornehmes Wort für Zimmer.«
Charlotte diktierte weiter, war aber nicht richtig bei der Sache.
Emily war sehr fleißig und bemüht, ihr alles recht zu machen, manchmal schon zu sehr. Sie war so gehorsam, dass sich Charlotte bisweilen ein bisschen Widerspruch oder eine patzige Bemerkung gewünscht hätte. Natürlich galten arbeitsame, fügsame Kinder als höchstes Ziel einer guten Erziehung, doch vermisste sie bei Emily die übersprudelnde Energie, die den meisten Kindern zu eigen war.
Was war
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