Der verbotene Kuss
beobachtet, wie ein weißgekleideter Khitmutgar mit einem Tablett voller Sorbetgläser mitten im Schritt erstarrt und tot auf dem Boden zusammengebrochen war. Und der Khitmutgar blieb nicht der Einzige.
Im Tanzsaal waren die Briten sehr still. Sie waren auf den Boden gesunken, ja, manche hielten sich noch in der Umarmung des Tanzes, saßen auf den Knien und stützten sich gegenseitig wie Marionetten, die gerade ausruhten. Andere waren umgekippt, und die Knöchel der Damen, die unter den Röcken hervorragten, waren sehr bleich. Eine Fliege krabbelte über eine Nase. Alle Augen standen offen.
Nur an der Tür gab es eine kleine Bewegung – Anamique wiegte den Kopf von James im Schoß und strich ihm durch die Haare. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über sein Gesicht und über das Kinn und spürte die rauen Bartstoppeln. Sie berührte die Stelle, wo sich die Grübchen bildeten, wenn er sie anlächelte, aber er würde sie, das begriff sie nun, niemals wieder anlächeln.
Das Weiße ihrer Augen bildete breite Ringe um die Iris, deshalb sah sie aus, als sei sie aus einem Albtraum aufgeschreckt. Während Pranjivans Schatten zuschaute, nahm sie einen kleinen Ring aus James’ toten Händen, steckte ihn sich auf den Finger und hielt ihn ins Licht, um den winzigen Diamanten funkeln zu lassen.
Dann beugte sie sich über James, drückte ihr Gesicht auf die kühler werdende Haut seines Halses und schluchzte.
– ELF –
Welch wunderbares Feuer
D reiundsechzig«, zählte Vasudev den letzten in der Reihe von Festgästen und Dienerschaft, die einer nach dem anderen ins Feuer strömten. »Dreiundsechzig!« Jubelnd hüpfte er um den Teetisch. Achtzehn Jahre hatte es gedauert, aber am Ende hatten sich das Warten und der Wetteinsatz gelohnt. Was für prächtige Kleidung die Briten bei ihrem Tod getragen hatten! Smoking und Abendkleider, und Spitze und Federn der Damen hatten so hübsch geknistert und Funken gesprüht, als sie in die Flammen geraten waren.
Der Dämon konnte gar nicht anders, er strahlte vor Verzückung, und er wollte unbedingt noch einmal hinauf in die Welt und sich an Pranjivan vorbeidrängen und um Estellas Totenbett tanzen. Doch wie sich dann herausstellte, konnte er sich den Weg sparen – Estella kam zu ihm.
Vasudev sah sie durch den langen Onyxtunnel gehen, und bei ihrem Anblick verlor er kurz die Sprache. Sie war nicht mehr in der Lage, selbst zu gehen. Pranjivans Schatten, der seine Drachenleine hinter sich her zog, trug sie so locker und sanft auf den Armen wie die alte Hexe die vielen Seelen von Neugeborenen, die sie im Laufe ihrer langen, wundersamen Tätigkeit aus der Hölle gerettet hatte. Sie wirkte sehr gebrechlich. Die Nadeln waren aus ihrem Haar gefallen, und es hing offen herab und schleifte wie eine lange Locke aus gesponnenem Silber über den Boden. Doch trotz dieser Schwäche und Unordentlichkeit funkelte in ihren Augen der alte Zorn.
Vasudev fand die Sprache wieder und jubelte: »Meine Liebe, wie überaus nett von dir, mich zu besuchen! Hast du es schon gehört? Bist du vorbeigegangen und hast dir die Leichen angeschaut? Es müsste doch längst das Tagesgespräch in der Stadt sein? Dreiundsechzig! Dreiundsechzig. Ich denke, wir dürften uns einig sein, dass ich diese Runde gewonnen habe.«
Estella zischte: »Vasudev, so geht das nicht. Die Sache ist völlig aus dem Gleichgewicht geraten!«
»Gleichgewicht? Was hat das Gleichgewicht damit zu tun? Darin liegt doch gerade die Würze solch bezaubernder kleiner Flüche, Estella. Man weiß nie, was am Ende dabei herauskommt. Nun werd nicht anmaßend. Du kennst die Regeln!«
»Hat Yama deine Regeln abgesegnet? Das Gleichgewicht muss gewahrt werden. Das ist seine Regel.«
»Um diese Regel hast du dich auch nicht geschert, als ich dir ein paar Bälger extra zukommen ließ, oder?«, höhnte Vasudev. »Damals hat dir ein kleiner Fluch nichts ausgemacht, als sich das Gleichgewicht zu deinen Gunsten verschob. Du bist eine schlechte Verliererin.«
Estella wollte etwas darauf erwidern, aber es gab nichts zu sagen. Er hatte recht. Sie hatte sein widerwärtiges Spiel mit Flüchen stets toleriert, solange es ihren Zwecken gedient hatte, und nun war am Ende dies dabei herausgekommen: Dutzende von Toten, und ein unschuldiges Mädchen als Mörderin all jener, die sie gekannt hatte. Die gebrechliche Estella sank besiegt in den Armen des Schattens in sich zusammen. Daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Diese Seelen zu retten, stand nicht in ihrer Macht. Sie
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