Der verbotene Kuss
hervorschälte, das mit einer Haltung voranging, als schreite es geradezu in sein Verderben. Es war Anamique, deren Augen vor Entsetzen weit aufgerissen waren. Sie hielt Pranjivans Drachenschnur locker in den Händen. Der war sie wie einer Rettungsleine durch die Dunkelheit gefolgt, und als sie jetzt um die Ecke trat und dem Feuer gegenüberstand, musste sie wegen des grellen Lichts die Augen schließen.
Als sie sie blinzelnd wieder aufschlug, sah Anamique die Silhouetten, die sich vom Feuer abhoben, und ging auf sie zu. Es waren längst Monate verstrichen, seit sie die alte Hexe zuletzt in der Stadt gesehen hatte, und erschrocken nahm sie zur Kenntnis, wie sehr sie sich verändert hatte. Viele Male hatte sie überlegt, ob sie nicht an die Tür ihres Palastes klopfen oder sie auf der Straße ansprechen sollte, um den Fluch an derjenigen auszuprobieren, die ihn überbracht hatte. Sie hatte davon geträumt und es nie gewagt. Und nun stand die alte Hexe dünn wie ein Federkiel vor ihr, fast durchsichtig vor Gebrechlichkeit, und Anamique beherrschte sich. Sie wollte mehr als Rache. Sie wollte James zurück, und all die anderen, ihre Eltern und Schwestern, ihre Aja und den alten Rajput-Krieger, der seinen Stolz hatte schlucken müssen, um sie im Garten auf einem Pony herumzuführen. Wenn sie ihre Frage laut aussprach, würde wieder jemand sterben, und dann hätte sie niemanden mehr, der ihr erklären könnte, was sie tun musste.
»Bist du seinetwegen gekommen, Kind?«, fragte Estella.
Anamique nickte.
Vasudev schnaubte. Er hatte einen säuerlichen, berechnenden Ausdruck auf seinem Mondgesicht. »Ach, wie schade«, sagte er, »da ist leider nichts mehr zu machen. Der Fürst der Hölle wird ihn neu erschaffen, genau wie die anderen. Du kommst zu spät, verstehst du.« Er deutete auf das Feuer.
Anamique starrte die Flammen an. In deren Schein leuchteten ihre grauen Augen orange. Verzweiflung breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Armes Ding«, sagte der Dämon. »Am besten machst du sofort kehrt und verschwindest, solange du noch kannst.« Er trat vor, nahm Anamique beinahe freundlich am Arm, fast wie ein kleiner Gentleman, und wollte sie in die Richtung führen, aus der sie gekommen war.
Benommen schaute das Mädchen über die Schulter zu Estella zurück, die plötzlich rief: »Warte mal einen Augenblick, Mädchen.«
Vasudev verzog das Gesicht. »Keine Zeit für solchen Unfug. Komm schon, komm.«
Estella lachte scharf. »Was ist denn los, Vasudev? Hast du vor irgendetwas Angst?«
Vasudev sah sie finster an. »Angst? Quatsch! Ich mache mir nur Sorgen um das Mädchen. Dies ist kein Ort für die Lebenden!«
»Nein, das ist es nicht, oder?« Estella blickte ihn durchdringend an. »Anamique, komm einmal her«, sagte sie.
Anamique ging zu ihr. Vasudev knirschte mit den Zähnen. Sein Blick ging nervös zwischen dem Feuer und dem lebenden Mädchen hin und her. Ihre Traurigkeit erinnerte ihn so sehr an Estellas Trauer vor vielen Jahrzehnten.
Estella sagte: »Ich bedauere, dass du in die verdrehten Machenschaften dieses Dämons verwickelt wurdest, meine Liebe. Dein Fluch hat in den letzten achtzehn Jahren schwer auf meiner Seele gelegen. Du solltest aber eins wissen: Durch den Fluch konnten zweiundzwanzig Kinder ein Erdbeben überleben, bei dem sie sonst gestorben wären. Dein Fluch hat diese Leben gerettet. Und durch die Jahre deines Schweigens hast du vielen weiteren das Leben gerettet.«
»Sie hat niemanden gerettet «, wandte Vasudev quengelig ein. »Sich zu entscheiden, jemanden nicht zu töten, ist nicht das Gleiche wie jemanden zu retten .«
»Welch feinsinnige Unterscheidung von jemandem wie dir«, erwiderte die alte Frau.
Anamique wirkte verwirrt. Estella langte nach ihrer Hand und ergriff sie. Mit jedem Wort schien die Stimme der alten Hexe schwächer zu werden, als sie jetzt sprach. »Den Tod kann man nicht überlisten«, flüsterte sie. »Wir müssen alle durch das reinigende Feuer gehen und werden in dem Körper wiedergeboren, den wir verdient haben, als Mensch oder als Heimchen, als Schakal oder als Adler. Diese Entscheidung trifft Yama ganz allein. Ich hatte nur Einfluss auf das Wann , und darauf, wer noch mehr Zeit verdient hatte, ehe er ins Feuer musste. So habe ich Kindern Jahre erkauft, und dafür hatte ich keine andere Währung als den Tausch. Eine Sünderseele gegen eine reine, eins gegen eins, so wurde es gehalten. Doch am Tag deiner Taufe hat Vasudev mir zweiundzwanzig Kinder umsonst angeboten.
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