Der verbotene Kuss
war zum letzten Mal aus dem Feuer gegangen. Wenn das wunderschöne Inferno sie das nächste Mal umschließen würde, dann, um sie von ihren eigenen Sünden zu reinigen und ihr die Erinnerungen zu rauben. Sie würde nicht eher wieder herauskommen, bis Yama ihre Seele in einen neuen Leib schickte, in den eines Menschen oder eines Tieres. So war nun einmal der Lauf der Dinge. Das Feuer nahm die Seelen in sich auf und erneuerte sie, und Yama hüllte sie in frische Körper, die er für angemessen hielt. Estella würde vielleicht als Tigerin oder als Flussdelfin wiedergeboren, oder als Steinbock, der auf Zehenspitzen oben in den hohen Bergen balancieren konnte. Vielleicht kehrte sie auch als Frau zurück, möglicherweise gar als eine, die ihre Liebe ein ganzes Leben lang genießen durfte, anstatt nur die Erinnerung daran.
Nun erwischte sie sich dabei, wie sie voller Sehnsucht in die Flammen starrte.
Sie war bereit; sie war schon seit langer Zeit bereit. Ihre Seele wünschte sich ins Feuer. Nur wegen einer einzigen Sache hatte sie in dieser Vorhölle des lauernden Todes verharrt – eines weitaus schlimmeren Todes, als sie ihn jemals den Sündern zugedacht hatte –, und zwar wegen Vasudev. Sechzig Jahre lang hatte sie mit der Macht, die Yama ihr verliehen hatte, den schlimmsten Blutdurst des Dämons abgewehrt, aber sie wusste, dass die Gier in ihm nur gewachsen war und sich in einem entsetzlichen Rausch entladen würde, sobald er von ihr befreit war.
»Meine Liebe«, sagte er nun mit übertriebener Höflichkeit, »du siehst müde aus. Möchtest du dich nicht setzen?« Er zog einen Stuhl am Teetisch für sie zurück. »Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?« Er zog die Lippen zurück und fletschte die Zähne. Und weil er nicht in der Lage war, sich zu beherrschen, fügte er hinzu: »Eine letzte Tasse Tee, bevor du brennst, alte Hexe?«
»Nein, besten Dank«, entgegnete sie. »Jetzt ist endlich mal Schluss mit der Höflichkeit.«
»Ja. Endlich Schluss ! Mit dir! Worauf wartest du? Geh schon! Du kannst deine Landsleute noch einholen, wenn du dich beeilst. Weißt du, was ich als Erstes tue, wenn ich dich los bin? › Pranjivan ‹ heißt ja vielleicht › Leben ‹ , aber das wird ihm nicht viel helfen. Nichts kann ihm helfen. Für ihn denke ich mir etwas Langsames aus, für all die Jahre, in denen ich am Dienstboteneingang klopfen musste wie ein gewöhnlicher Hausierer. Und dann? Ich habe es mir aufgehoben, Estella. Ich werde eine lange Reise unternehmen und mir jedes Balg holen, dass du je zurück in die Welt geschleppt hast, und ich werde sie so leiden lassen, dass sie sich wünschen werden, sie wären beim ersten Mal hier unten geblieben. Oh, vielleicht erinnere ich mich nicht an alle, aber ich werde mein Bestes geben.«
Estella bat Pranjivans Schatten, sie abzusetzen, und er gehorchte, blieb allerdings an ihrer Seite und stützte sie, als sie schwach ein paar Schritte auf Vasudev zuging. Schnarrend schrie sie: »Yama wird dir das nicht durchgehen lassen, Vasudev. Hörst du?«
»Wie lange es wohl dauern wird, bis es ihm auffällt, was denkst du? Wann wird er unsere kleine Ecke der Hölle mal wieder besuchen? Wann war er denn zum letzten Mal hier?« Er verspottete sie.
Estella hatte sich manchmal eingebildet, sie spüre die Anwesenheit des Fürsten der Hölle im großen Feuer, aber gesehen hatte sie ihn seit Jahrzehnten nicht – nicht seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal als trauernde Witwe hier erschienen war und sich die furchtbare Pflicht hatte auf erlegen lassen.
Mit bebender Stimme flüsterte sie: »Das kannst du nicht machen …«
Vasudev lachte bloß. »Ach, kann ich nicht? Los, mach schon, Estella, stirb endlich! Unsere kleine Abmachung kann doch nicht ewig gelten, und – bei meinen Zähnen – sie gilt schon lange genug! Du hattest hier eigentlich nie etwas zu suchen. Die Hölle ist nicht der richtige Ort für die Lebenden!«
In diesem Augenblick hörten sie beide ein unverkennbares Geräusch im Gang. Vasudev riss die Augen auf, und Estella fand die Kraft, sich ein wenig aufzurichten. Es waren Schritte. Sie drehten sich gleichzeitig um und spähten in den glänzenden schwarzen Tunnel. Beide wussten, dass sich die Seelen, die diesen Weg nahmen, so lautlos bewegten wie Schmetterlinge. Die Schritte der Toten hörte man nicht.
Nur die der Lebenden.
Beide hielten den Atem an. Sie machten zunächst nur einen verschwommenen Umriss aus, aus dem sich schließlich die Gestalt eines Mädchens
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