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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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mit einer abrupten Bewegung seinen Schatten wegschnappte.
    Er zögerte und starrte auf seine Füße, dann zu der Rikscha und wieder zurück zu seinen Füßen. Was hatte er da gerade gesehen? Die alte Hexe hatte ihre gebrechliche Hand auf ihn gerichtet, sie plötzlich zur Faust geballt und zurückgezogen – und daraufhin hatte sich James’ Schatten in die Länge gestreckt, hatte sich von seinen Füßen gelöst und war über das Pflaster gehuscht, um in der düsteren Rikscha zu verschwinden. Er meinte, fast gefühlt zu haben, wie sich der Schatten losriss. In seinen Mundwinkeln zuckte ein Grinsen. Zu gern hätte er über diese Absurdität gelacht.
    Aber als ein Kistenträger neben ihm stehen blieb, um seine Last neu zu schultern, ehe er die Straße überquerte, fiel es James unweigerlich auf: Der Schatten des Mannes ergoss sich dicht und dunkel über das Pflaster, und daneben … nichts. James warf keinen Schatten mehr.
    Die alte Hexe sank erschöpft in ihrem Sitz zurück, und Pranjivan warf James einen langen Blick zu, ehe er den Rikscha-Läufern befahl, sich in Bewegung zu setzen. James lachte vor Unglauben schallend und dachte daran, laut zu rufen: »Haltet den Dieb!« Er drehte sich im Kreis und vergewisserte sich, ob jemand die Szene beobachtet hatte, aber die Straßenkehrer und Laternenanzünder kümmerten sich um ihre Arbeit, und die Rikscha war schon bald im Dämmerlicht verschwunden.
    James setzte seinen Weg zur Residenz des politischen Vertreters fort, während in seinem Kopf gegensätzlichste Gedanken aufeinanderprallten. An Magie und Dämonen glaubte er nicht! Stattdessen glaubte er an Tag und Nacht, an Durchhalten und Zorn, an kalten Schlamm und Einsamkeit und die Geschwindigkeit, mit der Blut aus einem Körper floss. Er glaubte auch an die klägliche, trotzige Hoffnung und an die Art und Weise, wie die Gestalt des Mädchens, das man liebte, in der Fantasie die Arme ausfüllte, wenn man davon träumte, mit ihr zu tanzen.
    Aber ob er es nun glaubte oder nicht, sein Schatten war … verschwunden . Bei jedem Menschen, an dem er vorbeiging, fiel ihm diese Abwesenheit im Gegensatz zu den vielen Schatten auf, die über die Straße huschten. Als er das Tor der Residenz erreichte, hatte ihn ein Gefühl beschlichen, als sei an der Grenze seines Verstandes ein Riss entstanden, durch den sich der Wahnsinn hereindrängte.
    »Sahib!«, rief ein kleiner Straßenjunge und kam auf ihn zugerannt.
    »Ja, kleiner Mann? Was gibt es denn?«
    »Die alte Memsahib sagt, sie schenke dir dies, Sahib«, erklärte das Kind atemlos und warf James etwas vor die Brust, sodass er es auffangen musste. Es war ein kleines Paket, in braunes Papier gewickelt, und während der Junge davonlief, löste James die Verpackung. Es hatte so gut wie kein Gewicht und schien leer zu sein, doch als er es schließlich vollständig öffnete, fiel eine Masse aus Dunkelheit zu Boden und klatschte neben James’ Füßen auf, dunkel und flüssig wie Farbe, die aus einem Eimer geschüttet wurde. Es war sein Schatten, und hier unter den Laternen am Tor des Vertreters hob er sich scharf von der Umgebung ab, als wäre er nie verschwunden gewesen. Auf die Innenseite des braunen Papiers war ein einziges Wort geschrieben. Glaube.
    James’ Seele zitterte, aber nur ein wenig.

– NEUN –
Der Kuss
    A namique hielt nach James Ausschau. Für den Abend war ein Pianist angeheuert worden, damit sie auf ihrem eigenen Fest die Gäste nicht selbst unterhalten musste, und der Bursche spielte einen zackigen Ragtime. Andere tanzten und lachten, aber für Anamique würde das Fest erst beginnen, wenn James einträfe. Sie schaute in einen Spiegel, aus dem sie ein eigenartiges Mädchen anblickte, und lächelte. Sie hatte sich einen Bubikopf schneiden lassen. Ihre Schwestern hatten ihr Fingerwellen geformt, die glänzend und geschmeidig auf den Wangen hingen. Sie war jetzt kein Mädchen mehr und hatte auch bei der Kleidung darauf geachtet, dies zu betonen. Sie trug ein bunt schimmerndes Kittelkleid, das bis zur Wade fiel, und in den Seidenstrümpfen und Riemchenschuhen fühlten sich ihre Knöchel nackt an. Auch ihre Schultern waren in gewagter Weise nicht bedeckt, was ihr ein sinnliches und lebendiges Gefühl gab.
    Sie sah James hinter sich im Spiegel und drehte sich zu ihm um. Er war gerade hereingekommen und suchte nach ihr. Schelmisch beobachtete sie, wie sein Blick durch den R aum schweifte und zweimal über sie hinwegging, ehe er voller Überraschung auf ihrem Gesicht liegen

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