Der verbotene Kuss
hielt sie fest und lief, anmutig wie eine Katze, über das Geländer davon, und die Bestie holperte hinterher.
»Was ist das?«, fragte Esmé rasch.
Die Brücke bebte erneut, und Mihai fuhr herum, weil er sich umschauen wollte, wobei Esmé in einem Bogen herumgewirbelt wurde, bei dem sie einen Blick auf das Panorama der Brücken von Tajbel erhaschte, die eine nach der anderen die lange Schlucht überspannten. Sie hielt die Luft an. Unter jeder Brücke krochen sie hervor. Aus der Dunkelheit erschien einer dieser langen Arme nach dem anderen. Sie waren kränklich weiß, die Haut war gespannt, die Wangen und der Bauch waren tief eingesunken. Esmé begriff, dass die Bestien Hunger litten, und sie rissen die Riesenmäuler auf, als hofften sie, jemand würde ihnen etwas hineinwerfen. Hinter Mihai hatte sich bereits eine zweite Kreatur auf die Brücke gezogen, und die nächsten folgten schon und zerschmetterten die schöne Steinbalustrade in ihrer Hast.
Erneut fragte sie, diesmal verzweifelt: »Was ist das?«
Mihai sah sie an und wandte seine Aufmerksamkeit nur einen winzigen Moment von den Bestien ab, um sie zu mustern. Er hatte die Augen zusammengekniffen und eine Augenbraue fragend hochgezogen. Nachdem er sich wieder abgewandt hatte, murmelte er: »Ich habe keine Ahnung. Sie wollte es nie verraten.«
»Sie –?«, begann Esmé zu fragen, doch ihr stockte der Atem, als sich eine der Bestien auf sie und Mihai stürzte. Mihai schwang die Klinge und trennte die Hand des Ungeheuers am Unterarm ab. Schwarzes Blut spritzte aus dem Stumpf, doch die Bestie schien es kaum zu bemerken und folgte ihnen weiter.
Seit vierzehn Jahren mussten die Bestien für sich selbst sorgen, und das war keine gute Zeit für sie gewesen. Als es keine Katzen mehr gab, hatten sie sich in den Wald zur Jagd aufgemacht, aber ihr Fäulnisgestank hatte außer den kranken und schwachen Tieren jede Beute verscheucht. Sie hatten sich die Fische aus dem Bach geholt und waren anschließend dem Kannibalismus verfallen.
Der Blutgeruch lenkte die anderen Bestien vorüber gehend von Mihai und Esmé ab, und die Untiere fielen über ihren verwundeten Artgenossen her. Eine Bestie krachte vollkommen außer sich gegen die andere. Die eine wurde von der Brücke gedrängt und stieß im Fallen einen klagenden Schrei aus, der langsam leiser wurde, aber nie durch einen Aufschlag oder einen Felssturz beendet wurde. Der Schrei verhallte einfach in der Tiefe, als ob die Schlucht keinen Grund hätte. Von beiden Seiten griffen nun Finger nach Mihai und Esmé, und aufgerissene Mäuler klafften ihnen entgegen.
Immer mehr kamen auf sie zu. Viel zu viele.
Dann knackte es laut, und die Brücke machte einen Ruck. Sie sackte einen Fuß ab. Mihai konnte sein Gleichgewicht halten, bis das Bauwerk unter der Last auseinanderbrach und in Trümmern hinab in den Abgrund stürzte. Esmé kniff die Augen zu und schrie, doch ihre Stimme ging im Tosen der zusammenbrechenden Brücke unter. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich den schwarzen Abgrund vor, der ihnen entgegenkommen und sie verschlucken würde. Sie dachte an Mab in London, die ganz allein war, und sie wusste, ihre Mutter würde den Verlust nicht überleben. Dabei verspürte sie eine schreckliche Flut von Qualen, und erst dann begriff sie, dass sie nicht fiel. Mihais Arm hielt sie immer noch so fest, dass sie kaum atmen konnte, und sie fiel nicht. Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Die Brücke und die Bestien waren verschwunden – es gab noch jede Menge dieser Wesen auf den anderen Brücken, und sie drängten auf sie zu, doch die Gefahr erschien jetzt fern. Die Brücke, auf der sie gestanden hatten, war in die Tiefe gestürzt, und mit ihnen die Bestien.
Sie befand sich in Mihais Arm, und Mihai schwebte. Erstaunt sah sie ihn an.
Er wisperte grimmig und ohne Unterlass. Seine Druj-Augen wirkten fast weiß im Dämmerlicht, während er stur geradeaus starrte und seine Magie flüsterte. Er und Esmé trieben durch die Luft, und Esmés Herz klopfte heftig in ihrer Brust, ihr Kinn hing vor Staunen jedoch nur schlaff herab. Die Bestien grunzten, schlängelten sich an den Wänden der Schlucht entlang und versuchten die zwei Eindringlinge zu erreichen. Mihai trug Esmé auf gleitenden Stufen über den Abgrund. Es war, als würden sie fliegen.
Er brachte sie zur allerletzten Spitze. Dieser Turm war höher als die anderen und einst durch eine Brücke mit anderen verbunden gewesen, doch diese Brücke war eindeutig schon vor langer Zeit
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