Der verbotene Kuss
ihrer Mutter und hörte ihre Schreie, bis die Luft sich wieder schloss und die Stimme abgerissen wurde. In der anschließenden Stille, die folgte, hätte sie glauben mögen, taub zu sein.
Esmé kroch rückwärts. Sie drückte sich an das verzierte Geländer der Brücke und beobachtete Mihai. Er stand da, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtete sie gemächlich. Kalter Wind wehte ihm die Haare in die Augen, und ungeduldig strich er sie zurück. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Schrecken ab, den er versuchte zu verbergen, was ihm jedoch nur schlecht gelang. Esmé guckte sich nach dem um, was er sah. Die Brücke, auf der sie gelandet waren, spannte sich über den Abgrund zwischen zwei hohen Felstürmen. Abgelaufene Steinstufen führten in Spiralen nach oben und um die Türme herum, ehe sie in Gängen verschwanden, und scheibenlose Fenster gaben den Blick auf leere Räume im Inneren frei. Es waren viele Felstürme, und sie erhoben sich wie Stalagmiten aus den schattenverhüllten Tiefen einer langen Schlucht. Oben liefen sie zu spitzen Kegeln zusammen, die wie Tierhörner gefurcht waren, und auch nach unten verengten sie sich, als wären sie äußerst gebrechlich auf langen Steinstängeln aus der Schwärze gewachsen.
Diese Landschaft sah aus, als wäre sie von den Bergen selbst ausgespien, als hätte die Erde einen Versuch unternommen, die von Menschenhand gebauten Burgen auf einfache Weise nachzuahmen. Es war ein Ort der Anderswelt, und Esmé hatte das Gefühl, ihn wiederzuerkennen, während sie gleichzeitig die Fremdartigkeit mit Ehrfurcht erfüllte. »Wo sind wir?«, fragte sie Mihai.
Er wandte sich ihr abrupt zu und warf ihr einen bohrenden Blick zu. »Ich denke, du weißt es schon«, sagte er.
Und plötzlich begriff sie. »Tajbel«, flüsterte sie. Ihre Lippen bildeten das Wort, als hätte sie es schon immer gekannt.
»Was davon übrig ist«, meinte Mihai, und Esmé las den Schock von seinen Augen ab. Er drehte sich langsam um seine eigene Achse und murmelte Worte, die Esmé schon von Mab gehört hatte: »Avo afritim. Segne und beschütze uns.«
Sogar sie spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Die Zitadelle wirkte verlassen. Kalter Wind strich um die Türme, erzeugte jedoch nahezu kein Geräusch. Rankpflanzen hatten die Brücken und die Wände der Schlucht erobert, und an vielen Stellen zerbröckelte der wunderschön behauene Stein. Eine Brücke war ganz in die Tiefe gestürzt, geblieben waren nur die kurzen Ansätze an den Rändern, wie Wege ins Nichts. »Wer lebt hier?«, fragte Esmé. »Wo sind sie?«
Mihai antwortete nicht. Plötzlich zuckte er zusammen und hielt die Nase in die Luft, wie ein Raubtier, das Witterung aufnimmt. Dann riss er die Augen auf, fuhr zu Esmé herum, packte sie am Knöchel und zog sie zu sich heran. Das alles geschah aus einer fließenden Bewegung heraus, und Esmé schrie erschrocken auf und wollte ihm entweichen. Doch ehe sie überhaupt begriffen hatte, was geschah, hatte Mihai einen Arm unglaublich fest um ihre Hüfte geschlungen und sie von den Füßen gehoben. Er zog ein Messer aus der Scheide an seiner Hüfte, die Klinge blitzte auf, doch sie hatte nicht einmal genug Zeit, den Atem anzuhalten, da sprang er bereits mit der Anmut eines Tieres auf die schmale Balustrade der Brücke, über die er, Esmé im Arm, balancierte.
Sie wollte sich wehren, aber ein Geruch von Fäulnis stieg ihr in die Nase, und ein Arm, dick und weiß wie ein Fisch, mit Schorf überzogen und entsetzlich lang, schwang unter der Brücke hervor und schlug genau auf die Stelle des Geländers, an die sie sich eine Sekunde zuvor noch gelehnt hatte. Die ganze Brücke bebte, und die Balustrade brach wie Eiszapfen. Stummelfinger mit Krallen krabbelten über die Trümmer und suchten nach Fleisch. Nach Esmé.
Da die Bestie nichts fand, schwang sie auch noch den zweiten Arm auf die Brücke und zog sich hinauf ins Tageslicht. Esmé stockte der Atem. Über einer flachen Nase, die kaum mehr als Schlitze in einem Knubbel tot wirkenden Fleisches war, glühten Glupschaugen. Der gedrungene Kopf erschien eher wie ein Haltepunkt für die riesigen Knochen und Muskeln, die notwendig waren, um die Kiefer bewegen zu können. Esmé beobachtete, fasziniert und entsetzt, wie sich das Maul öffnete und mehrere Reihen flacher, abgeschliffener Zähne und dazu einen Schlund enthüllte, der gewiss ein ganzes Tier auf einmal verschlucken konnte. Die Bestie brüllte, und Esmé hörte sich selbst ebenfalls schreien. Mihai
Weitere Kostenlose Bücher