Der verbotene Kuss
sicher.«
»Sicher?«, wiederholte Esmé und lachte hysterisch. Und obwohl sie sich vor der Antwort fürchtete, rief sie: »Was willst du von mir?«
»Nicht von dir, Esmé«, sagte er. »Eigentlich nicht von dir.«
»Was –?«, begann Esmé zu fragen, als sie etwas erblickte, das sie erstarren ließ. Und während die letzten geisterhaften Spuren der Wüstenvision aus dem Spiegel verschwanden, entdeckte sie ein Gesicht darin. Es war in Schatten versunken und sah sie an, aber es war keine Vision. Es war ein Spiegelbild. Hinter ihr war jemand. Erschrocken fuhr Esmé herum.
In einer dunklen Nische gegenüber dem Spiegel saß eine Frau, still wie Stein. Auf ihrem schwarzen Haar und ihren Schultern lag dicker Staub und füllte auch den Schoß ihrer Seidenrobe. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, ein perfektes goldenes Oval, und die Augen waren blau wie bei den Druj. Staub hing an den Wimpern, und ein langer Spinnenfaden klebte dort und spannte sich hinüber in den Schatten. Die Augen standen offen, waren jedoch trocken und stumpf, und in ihnen brannte kein Leben.
»Wer ist das?«, flüsterte Esmé und konnte sich nicht von der Schönheit der Frau abwenden.
»Die Druj-Königin.«
»Ist sie … ist sie tot?«, fragte Esmé und fühlte sich von der im Schatten hockenden Königin angezogen. Mit winzigen, vorsichtigen Schritten ging sie auf sie zu.
»Nicht tot. Nur leer. Sie hat ihren Körper vor langer Zeit verlassen.« Er zögerte und fügte mit einem raschen Blick auf Esmé hinzu: »Vor vierzehn Jahren.«
»Vierzehn?«, wiederholte Esmé und wandte sich ihm zu, als die Bedeutung der Zahl ihre Ehrfurcht überwand. »Vierzehn?«, fragte sie noch einmal. Dann sah sie die Königin an und gestand sich ein, was ihr erster Gedanke gewesen war, als sie in dieses perfekte Gesicht geschaut hatte. Der Funke der Erkenntnis war klein und doch so erhellend gewesen.
Dieses Wesen ähnelte ihr nicht im Geringsten, und doch hatte sie irgendwie das Gefühl, sie betrachte sich selbst im Spiegel.
– ZEHN –
Yazad
G eh zu Yazad, Mab«, hatte Mihai gesagt, und als sie wieder in der Lage war, aufzustehen, tat sie genau das.
Sie wartete unter dem kunstvollen Torbogen des Anwesens, in dem der alte Mann wohnte, und erinnerte sich an das erste Mal, als sie hier gestanden hatte – genauer gesagt, in Mihais Armen gelegen hatte. Er hatte sie durch ein Fenster in der Luft von Tajbel direkt hierhergebracht, und sie hatte den Eindruck gehabt, als sei die Welt aufgeplatzt wie eine Eierschale. Der breite schwarze Boulevard, die Straßenlaternen und der ferne Lichtschein der Stadt, die vorbeifahrenden Autos, der Dunst – all das hatte sie noch nicht gekannt. Es war der reinste Terror für sie gewesen.
Jetzt dachte sie, an jenem Abend müsse sie Yazad wie ein wildes Wesen erschienen sein, wie ein Tier-Mädchen. Sie hatte den Bauch in beiden Händen gehalten, so prall gefüllt mit Esmé, dass die Geburt jederzeit hätte beginnen können, und er hatte sie mit solchem Mitgefühl angesehen, dass es ihren Schrecken unversehens ein wenig gemildert hatte. Niemals zuvor, nie, hatte sie einen derartigen Blick gesehen. Er hatte sie sanft hinein zu einem Stuhl am Feuer geführt – noch so ein neues und erschreckendes Ding, Feuer! Sie hielt sie für ein Lebewesen, diese springenden Flammen. Yazad hatte ihr Tee gereicht und sich dann lange mit Mihai in einer Sprache unterhalten, die sie nicht verstand.
In diesen Tagen gab es so vieles, das sie nicht begriff, und vieles entzog sich heute noch ihrem Verständnis. Warum hatte Mihai sie der Königin geraubt? Er war ihr treu ergeben, doch nicht auf diese unterwürfige Weise wie die anderen Druj. Von dem Moment an, in dem Mab sein Gesicht zum ersten Mal in der Menge gesehen hatte, hatte sie gewusst, wie sehr er sich von den anderen unterschied. In den Monaten, die er in Tajbel verbracht hatte, jenen Monaten, in denen Esmé in ihrem Bauch herangewachsen war, hatte sie noch andere, erstaunlichere Dinge als den Schmerz auf seinem Gesicht gesehen. Sie hatte … Liebe gesehen.
Ihre letzte Nacht in Tajbel erschien ihr auch heute noch genauso geheimnisvoll wie damals. Es war Vollmond gewesen. Die Druj befolgten strenge Rituale bei ihrer Mondverehrung, und in den Vollmondnächten fand stets eine Feier statt − ein Wahnsinn aus Fell und Federn und Tierstimmen, wenn sie ihre Kraft aus dem leuchtenden Trabanten bezogen. In jener Nacht hatten sie, wie bei jedem Vollmond, ihre Roben ausgezogen und sich einer nach dem
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