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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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den Mund aufmachen konnte, stieg etwas aus dieser Krypta der Erinnerungen auf und überwältigte sie. Es war ein Gesicht. Ein Mann. Ein Mann mit einem Auge. Die Augenhöhle, in der sich das zweite hätte befinden sollen, war leer und blutig, und ihr stieg der Mageninhalt im Halse hoch. Sie schüttelte den Kopf, und das Gesicht zog sich zurück. »Ich weiß es nicht «, flüsterte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich auch nicht. Vielleicht Afrika. Sie hatte ihre Spione überall. Dies ist – war – das Tabernakel der Spione. Die Druj-Königin hat immer Augen gesammelt. Die von Dorfratten oder Adlern, die in den Lüften kreisen, von Krähen und sogar Singvögeln im Dickicht. Denen nahm sie ein Auge, brachte es hierher und ließ das Wesen selbst an seinem Platz. So konnte sie sehen, was ihre Spione sahen, wenn sie durch die Welt zogen. Was all ihre Spione sahen. Und es waren nicht nur Tiere. Sie nahm auch die Augen von Menschen. So wie dieses.« Er deutete auf das starrende braune Auge. »Es gefiel ihr, die Welt zu beobachten.«
    »Sie … sie hat ihnen die Augen herausgerissen?«, fragte Esmé. »Das ist schrecklich .« Dann zögerte sie, denn plötzlich dachte sie an ihre Mutter und die einäugige Möwe, die sie vor Jahren am Strand gesehen hatten. Mabs Verhalten erschien ihr im Nachhinein nicht mehr so verrückt wie damals.
    Mihai betrachtete die silbernen Lider und die vertrockneten Spuren der Verwesung, die aus vielen hervorgequollen waren. »Ich nehme an, die meisten ihrer Spione sind gestorben. Sie hat ihre Sammlung so sorgfältig gepflegt und alte Augen immer durch neue ersetzt. Dieser Anblick wird ihr nicht gefallen. Überhaupt wird es ihr nicht gefallen, wie es in Tajbel aussieht«, sagte er, und Esmé glaubte, sie bemerke bei ihm nicht nur Traurigkeit, als er ihr Gesicht musterte, sondern auch eine gewisse Angst.
    »War dies deine Stadt?«, fragte sie.
    »Nein, meine nicht. Ich kam aus einem anderen Stamm.«
    »Ihr habt Stämme? Was … was seid ihr denn?«
    Er sah sie scharf an, und wieder hatte sie das Gefühl, er erwarte etwas von ihr. »Wir sind Druj«, sagte er schlicht.
    »Ich weiß, aber was seid ihr?«
    »Ach, Esmé. Ich habe noch nicht gelernt, wie ich diese Geschichte erzählen soll.«
    »Stimmt es, dass ihr keine Seelen habt?«
    »Wir sterben nicht. Wozu brauchen wir da Seelen?«
    »Sind Seelen nur dazu gut? Nur gut, wenn wir sterben?«, fragte Esmé.
    Nun ging etwas in Mihais Gesicht vor sich. Die kühle, beinahe grausame und tierische Flachheit seiner Miene verschwand, und trotz der scharfen Zähne und der hellen, hellen Augen wirkte er plötzlich menschlich. Verletzlich. »Nein«, sagte er und seine Stimme klang wie ein Knurren tief in der Kehle. »Sie sind auch gut für das Leben.«
    Esmé hatte auf einmal Mitleid mit ihm und war überrascht, weil sie den Drang verspürte, sein Haar zu berühren. Ehe es ihr bewusst wurde, streckte sie die Hand aus, ballte sie jedoch zur Faust, zog sie zurück und drückte sie sich in die Seite. Ein starkes Schwindelgefühl überfiel sie, als stehe sie am Eingang dieser Krypta − und die war tief, so tief, und gefüllt mit aufsteigendem Nebel aus Erinnerungen, mit Schwefel und huschenden Wesen und mit schrecklichen, ach, so schrecklichen Geheimnissen. Sie musste sich an der Wand abstützen, fühlte Silber und Stein unter den Fingerspitzen und die alte Kruste verflüssigter Augen.
    Mihai beobachtete sie, und die Sehnsucht in seinem Blick jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wusste, das hatte sie schon einmal gesehen, diesen Blick und diese Augen. Und sie erinnerte sich abermals an den Schock über seinen Lippen auf ihren.
    Doch wie? In ihrem jungen Leben war sie niemals den Lippen eines Mannes nahe gekommen, ob nun denen eines sterblichen oder eines unsterblichen.
    Es pochte an der Tür, so kräftig, dass die ganze Kammer bebte. Esmé hielt den Atem an. Die Bestien standen draußen. Da es keine Brücke mehr gab, mussten sie am Stängel der Felsspitze hinaufgeklettert sein. Ihr Pochen erschütterte das silberne Lid, das auf den winzigen Scharnieren zuklappte und dabei ein kaum hörbares »Ping« erzeugte. Die Vision der Wüste verschwand. Ein entsetzliches Stöhnen und Jammern gesellte sich zu dem Klopfen draußen, und Esmés Herz begann zu rasen. Eindringlich sagte sie zu Mihai: »Warum hast du mich hergebracht? Bring mich nach Hause. Bitte!«
    »Bald, Esmé«, erwiderte er.
    »Bald? Aber sie werden hereinkommen!«
    »Nein, hier sind wir

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