Der verbotene Kuss
darauf, dass es vorüberging, und es sollte auch nicht lange dauern. Aber ehe es so weit war, fiel ihr der neue Druj in der Zuschauermenge noch einmal auf, und sie konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Es stach aus der Masse der anderen hervor, starr wie es war, als halte dieser Fremde ein Ding zwischen den Zähnen, das sich wehrte, und als müsse er fest zubeißen, um es zu töten. Bei diesem Ding, dessen war Mab sich sicher, musste es sich tatsächlich um Schmerz handeln, doch sie wusste, dass Druj ihn eigentlich niemals spürten. Es war ihr ein Rätsel. Er war ihr ein Rätsel, und er beschäftigte ihre Gedanken, bis die Königin und Isvant ihre Scharade beendet hatten und in ihre eigenen Leiber zurückkehrten.
Der Körper der Königin regte sich. Sie hob das Kinn, wandte sich kühl von Mab ab und ließ sie auf den Fellen liegen. Die blaue Farbe auf Mabs Haut war verschmiert und hatte sich mit der des Jungen vermischt. Er weinte leise neben ihr, und nachdem Mab langsam zu sich gekommen war, drehte sie sich zu ihm um, streichelte sein Haar und sprach leise auf ihn ein. Die Königin blieb stehen und blickte über die Schulter. Verärgerung huschte über ihre Miene.
Mab begegnete verwegen ihrem Blick und streichelte dem Jungen weiter über das Haar. Die Hitze seiner Stirn erstaunte sie. Sie verstand mehrere neue Dinge gleichzeitig. Zum einen war sie nicht allein in der Welt, sondern nur ein Exemplar einer mysteriösen Spezies, die an einem anderen Ort existierte. Zum anderen war sie etwas, das die Königin in bestimmter Weise begehrte. Druj konnten geliehene Körper tragen, aber sie würden nur die Reibung spüren. Sie konnten nicht fühlen, was zwei Fremde zueinanderführte, was sie so vertraut zusammenhielt, wenn sie Furcht und Traurigkeit teilten. Das konnte ein Druj nicht erleben, selbst wenn er den Akt der Liebe nachäffte.
Mab begriff, dass den Druj etwas fehlte. Später würde Yazad ihr die Sache mit den Seelen erklären. Damals konnte sie es nicht in Worte fassen, während sie da mit dem Jungen auf den Fellen lag, aber auch ohne Worte begann sie zu verstehen.
Viele Monate danach, als sie die ersten Bewegungen des Lebens in sich spürte und mit den Händen den Bauch umfasste, konzentrierte sich dieses Verständnis in ihr und bildete einen harten, hellen Punkt wie eine Perle in einer Muschel. Auch dazu waren die Druj nicht in der Lage, dachte sie grimmig. Und obwohl die Königin in sie einströmen und ihr das Gefühl dieser Bewegungen stehlen konnte, wusste Mab, diese Perle gehörte ihr, und daran vermochte die Königin nichts zu ändern.
Und außerdem wurde ihr klar, dass sie nicht einfach mit leeren Armen über die schwarzen Wiesen davongehen könnte, nachdem sie sich ihre Freiheit mit diesem winzigen Leben erkauft hätte. Sie dachte an die Reihe von Müttern im Mädchenalter, die vor ihr hier gewesen waren, und sie versuchte sich vorzustellen, wie sie Tajbel verließen und fortgingen, ihrer Säuglinge beraubt, leer wie Eierschalen. Und das konnte sie einfach nicht glauben.
Was war mit ihrer eigenen Mutter geschehen, was mit all jenen vor ihr?
Mihai sorgte dafür, dass Mab es niemals erfahren sollte, und ihm war es zu verdanken, dass ihre Tochter nicht Hunger zu leiden und nicht im Käfig zu hocken brauchte, dass sie niemals dem fürchterlichen Eindringen eines Druj-Animus ausgesetzt war. Aus irgendeinem Grund hatte er sie beide gerettet. Als er jetzt Esmé raubte und Mab die großen Türme von Tajbel durch sein Fenster in der Luft erblickte, überwältigte sie all die alte Pein, und sie schrie, bis sie nicht mehr schreien konnte, und danach brach sie starr auf dem Teppich zusammen. Sie sah junge Glieder, auf die mit blauer Farbe Kreise gemalt wurden, und sie hörte im Kopf ein Lied über reifende Früchte. Sie hielt sich den flachen Bauch, den die wertvolle Perle schon lange verlassen hatte, und sie stellte sich vor, wie die sanfte Esmé zu einem geraubten Jungen geführt wurde, um für die Königin einen rothaarigen Liebling auszutragen, der niemals von Menschenhänden gewiegt werden würde.
»Es geht nicht um das, was du vielleicht denkst«, hatte Mihai gesagt, aber Mab war in Albträumen gefangen und konnte sich kein anderes Schicksal ausmalen.
– NEUN –
Stadt der Bestien
E smé fiel durch Mihais herbeigeflüstertes Fenster hinunter auf eine schmale Steinbrücke. Sie landete auf den Knien und drehte sich rasch um. Mihai war gleich hinter ihr. Sie sah noch die verzweifelten Hände
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